Sonntag, 25. April 2010

Chinas postmoderne Moderne: SHIJIE / THE WORLD (2004)

(T.Hwa)



Jia Zhangkes THE WORLD erzählt von Wanderarbeitern aus der chinesischen Provinz, die in einem Freizeitpark bei Beijing arbeiten, der die touristischen Attraktionen der Welt in einem Maßstab von 1:3 nachbildet und so reisewilligen Besuchern eine Weltreise zu Fuß ermöglicht. Der Film verfolgt den kargen Alltag seiner Figuren in dieser surrealen Umgebung und zeigt so den Kontrast zwischen dem Wunsch, in die Welt aufzubrechen und der Gewissheit, dass dieser Aufbruch nie kommen wird. Die Suche der Protagonisten nach der Moderne endet in einem postmodernen Simulacrum des Übergangs, das für die außer Reichweite liegenden Versprechen einstehen muss. Ihre eigene Moderne findet in den verfallenden Unterkünften statt, die noch auf die zurückliegende, industrielle Produktion des sozialistischen Systems verweisen.




Wie einer der Angestellten stolz gegenüber einem Verwandten aus der Provinz betont, stehen in dem chinesischen Manhattan die Türme des World Trade Centers noch: die raubkopierte Simulation übertrifft die Realität, wird aber auch von dieser überholt. Noch während Jias Kamera die Widersprüchliche dieses Nebenprodukts der Modernisierung einfängt, wird dieses schon wieder selbst historisch. Die Melancholie dieser schon überholt scheinenden Ersatz-Welt wird auch dadurch betont, dass auch der Welt-Park aus dem selben Beton wie die Industrieruinen ist - und damit ein bauliches und nicht etwa ein mediales Surrogat darstellt. So steht dieses lokale post-moderne Artefakt aus „low-tech“-Mitteln der Moderne für den paradoxen Zustands der chinesischen Gesellschaft zwischen einer noch nicht abgeschlossenen Moderne und einer simultanen Post-moderne, die nach Jias Filmen vor allem die Sehnsüchte des Subjekts prägt.

Für diese stehen, im Gegensatz zu den nachgebauten Attraktionen, die folkloristischen Tanzaufführungen und vor allem die bewusst naiv gehaltenen digitalen Zeichentrickfantasien, die der Film motivisch mit dem Gebrauch von Mobiltelefonen, als ökonomisch zugänglichstem Produkt moderner Technologie, in Verbindung bringt. Angesichts sozialer Verhältnisse, die eine potemkinsche Welt am Rande Beijings hervorbringen, erlaubt nur der Gebrauch elektronischer Konsumgüter digitale Träume von unbegrenzter Freiheit.



Schließlich sind es auch die (digitalen) Bilder der Besucher des Parks, welche der low-tech Simulation den Übergang zur medialen Post-moderne ermöglichen: die mit perspektivischer Verzerrung spielenden Schnappschüsse des schiefen Turms von Pisa unterscheiden in ihrem illusionären Charakter kaum zwischen Original und Surrogat.

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Donnerstag, 15. April 2010

DARE MO SHIRANAI / NOBODY KNOWS (2004)

(T.Hwa)

Eine allein erziehende Mutter zieht mit ihren Kindern in eine neue Wohnung. Die Stimmung ist fröhlich, die noch leeren Räume sind vom Sonnenlicht des Herbstnachmittags durchflutet. Aber beim gemeinsamen Abendessen erinnert die Mutter daran, dass die Kinder das Haus nicht verlassen sollen. An den folgenden Morgen verabschieden die Kinder ihre Mutter morgens, denn sie leben in einem ständigen Wochenende: keines von ihnen besucht eine Schule. Spät nachts erzählt die angetrunkene Heimkommende den Jüngeren von ihren Vätern.
Dann werden die Kinder für einige Wochen allein gelassen während sie in einer anderen Stadt Arbeit sucht, dem zwölfjährigen Sohn obliegt es als Ältestem, die Rechnungen zu zahlen und im Supermarkt Lebensmittel einzukaufen. Bei der Rückkehr gibt es Geschenke und liebevolle Gesten, doch schon bald kündigt sich die nächste Abwesenheit an - mit dem Versprechen, zu Weihnachten wieder zuhause zu sein.


Kore-eda Hirokazus Film, mit Darstellern im Alter von sieben bis vierzehn „in sequence“ über den Zeitraum eines Jahres gedreht, erzählt seine zunehmend schockierende Geschichte auf eine sehr leise, zum Teil fast indirekte Art.
Der japanische Regisseur verwendet viel Zeit darauf, die große Zärtlichkeit der Familienmitglieder im Umgang miteinander zu zeigen, auch als sich der weitere Handlungsverlauf schon abzeichnet. Immer wieder sieht man Nahaufnahmen von Berührungen, von Händen und Füßen, die auch die Verletzlichkeit der Kinder unterstreichen.
Die Figur der Mutter erscheint selbst kindlich, noch betont durch ihre auf jugendliches „kawaii“ abzielende Art zu Sprechen, die im Laufe des Films im Kontrast zu ihrem fortgeschrittenen Alter immer mehr verstörend wirkt. Überfordert vom Leben, sehnt sie sich nach einer sorgenfreien Beziehung mit einem Mann, der für sie sorgt; und wird in diesem Wunsch von dem Film ernst genommen. Da es ein leichtes wäre, die Figur als ein bloßes Stereotyp darzustellen, ist es Kore-eda gar nicht hoch genug anzurechnen, dass er die Figur nicht auf diese Art „aufgibt.“ Auch dem ältesten Sohn, an der Schwelle zur Pubertät und durch die Umstände gezwungen schnell erwachsen zu werden, gesteht der Film auch Momente zu, in denen die Anliegen seines Alters über die überantwortete Verantwortungen überwiegen; und damit eine menschliche Fehlbarkeit, die an die humanistische Seite Ozus oder Kurosawas erinnert.
Gerade weil der Film seine jungen Protagonisten durch ihre kindliche Unbefangenheit und schiere Freude auch am einfachsten Leben die extreme Situation so lange meistern lässt, verstärkt sich noch das beklemmende Gefühl des Zuschauers angesichts des langsamen Verfalls der Lebensumstände in der immer kleiner werden zu scheinenden Wohnung. Verlassen im späteren Verlauf des Films alle Geschwister gemeinsam ihr zuhause, um ausgelassen durch die Nachbarschaft zu laufen und einfach Kinder zu sein, so entsteht aus dieser einfachen, wenig symbolischen Handlung ein starkes, im besten Sinne rührender Moment.

NOBODY KNOWS ist, wahrscheinlich zeitlich begrenzt, auf der Online-Arthouse-Platform theauteurs.com kostenlos und legal als Stream zu sehen. Nicht nur aus diesem Grund möchte ich den Film uneingeschränkt empfehlen.
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