Dienstag, 15. September 2009

Subjektivität und Objektivität in SYNDROMES AND A CENTURY (2006)

(T.Hwa)

Obwohl sicher kein einfach zugänglicher Film, ist SYNDROMES AND A CENTURY ein Werk, das sich auch nach Godard mit einer gewissen Radikalität mit der Form und den Möglichkeiten des Mediums auseinandersetzt. Diese modernistische Tendenz (die im übrigen auch Godard eher gerecht wird als die Verkürzung auf filmische „Selbstreflektivität“, die ihn zu einem Vorvater der Postmoderne machen will) soll hier ansatzweise an dem Verhältnis zwischen den für die Moderne so bedeutenden Begriffen Subjektivität und Objektivität skizziert werden.

In einem Interview in Sight and Sound (Oktober 2007) äußert sich der thiländische Regisseur Apichatpong Weerasethakhul über das Verhältnis von Gedächtnis und Film wie folgt: „Everything is stored in our memory, and it’s in the nature of film to preserve things, but I’ve never set out to recreate my memories exactly. The mind doesn’t work like a camera. The pleasure is not in remembering exactly but in recapturing the feeling of the memory – and in blending that with the present“.
Die Überlegungen kontrastieren filmische Objektivität und subjektive Erinnerung, einen an Siegfried Kracauer erinnernden „konservierenden“ (heute vielleicht auch „naiven“ oder „idealistischen“) Realismus und eine konstruktivistische Skepsis gegenüber der Vermittelbarkeit subjektiver Erfahrung. Die Kamera vermag vorfilmische Realität zu fixieren, den persönlichen Eindrücken gerecht zu werden jedoch nicht. Diese Spannung zwischen einem Vertrauen in die objektiv registrierende Funktion der Kamera auf der einen, und der Subjektgebundenheit von Erinnerung und menschlicher Wahrnehmung auf der anderen Seite bildet den Kern von SYNDROMES AND A CENTURY.
Stilistisch orientiert sich der Film an dem „reduzierten“ Stil der langen, ruhigen Einstellungen und des zurückgenommenen Schauspiels, der einen bedeutenden Teil des zeitgenössischen asiatischen Autorenkinos prägt (und über den noch viel zu sagen wäre). Das Thema des Films basiert (extrem) lose auf autobiographischen Eindrücken aus der Kindheit des Regisseurs, sowie auf Elementen der Biographie seiner Eltern, die beides Ärzte sind. Dennoch ist das setting die Gegenwart – eine erste, oberflächliche Parallele zu dem Zitat. Der Film geht jedoch sehr viel weiter, indem er an die Stelle konventioneller Narration und psychologisch motivierter Figurenentwicklung eine fast schon konzeptuell zu nennende Anlage setzt. Statt eines geschlossenen dramaturgischen Bogens verfügt der Film über eine zweigeteilte Struktur, die sich an zwei Schauplätzen – einem Krankenhaus auf dem Land und einem Klinikum in der Großstadt Bangkok – orientiert, während ein Teil der Schauspieler in beiden Episoden auftreten. Statt kausalen Verbindungen dominieren motivische Verbindungen zwischen den beiden Hälften: dem Gegensatz zwischen Stadt und Land entspricht der Kontrast zwischen künstlichem und natürlichem Licht, auf den auch im Originaltitel Bezug genommen wird („Licht des Jahrhunderts“). Orientiert sich die Erzählung in der ersten Episode eher an einer weiblichen Figur, so in der zweiten eher an einer männlichen Figur, jedoch ohne sich je in konventionellem Sinne durch eine Position identifikatorischer Nähe an eine Figur zu binden. Besonders betont wird diese leichte Verschiebung der Perspektive in der variierenden Wiederholung von Szenen. So wird etwa ein beinahe identischer Dialog in beiden Episoden durch die Inszenierung geringfügig anders aufgelöst. Der Film spielt durch die Abweichungen motivisch mit der Relativität von Erinnerung (wie sich mutmaßen lässt die der beiden Elternteile), ohne jedoch einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zu implizieren (das „RASHOMON-Prinzip“).
Die besondere Qualität des Films besteht in der Verbindung von Abstraktion auf der Ebene der Narration und des Schauspiels, sowie der Vermittlung von konkreten, primär sinnlichen Eindrücken. So zeigt eine mehrere Minuten lange Einstellung gegen Ende des Films einen leeren Raum im Keller des Krankenhauses, das den Schauplatz der zweiten Hälfte des Films darstellt. Die Kamera nähert sich langsam einer überdimensionierten Abzugsröhre in der Mitte des Raumes, auf der auditiven Ebne begleitet von dem Dröhnen der Belüftung. Obwohl diese Einstellung in dem Sinne abstrakt bleibt, dass sie auf keinerlei Weise mit der Handlung oder auch symbolischen Motivreihen der beiden Episoden verbunden ist, kann man sich als („geduldiger“) Zuschauer kaum der visuellen Sogwirkung entziehen, mit welcher sich die Kamera auf die schwarze Öffnung zu bewegt. Die Wirkung dieser Einstellung ist in Kritiken als bedrohlich und verstörend beschrieben worden, und sie fasst präzise die vorherrschende Stimmung der zweiten Episode zusammen. Gleichzeitig verdeutlicht sie jedoch auch, wie sich der Film zwischen objektiver Kamerarealität und Subjektivität bewegt. Die Perspektive der Kamera wird nicht als die Perspektive einer Figur aufgelöst, die Gleichsetzung des Kamerablicks und dessen des Zuschauers basiert auf der Grundkonvention des Mediums und nicht auf der Identifkation mit einer Figur. Dennoch vermittelt dieser objektive, nicht-anthropozentrische Blick sinnliche Eindrücke die, vielleicht gerade dadurch, dass sie nicht an ein Subjekt innerhalb der Diegese gebunden sind, umso unmittelbarer wirken.
Obwohl SYNDROMES eine Rekonstruktion von Familienanekdoten und autobiographischen Erinnerungen darstellt, geschieht dies in Abwesenheit von Trägern der subjektiven Perspektive. Auch wenn der Film sich über die subjektiven Fragmente sinnlicher Wahrnehmung erschließt, erschöpft sich die Exploration von Erinnerung damit nicht in einem Rückbezug in durch konventionalisierte filmische Mittel gekennzeichnete Subjektivität (Rückblenden, Farbsymbolik, Handkamera, Point of view Einstellungen, etc.). Gerade dadurch, dass in die Bilder des Films keine offensichtliche Subjektivität eingeschrieben wird, werden diese subjektiven Eindrücke des Regisseurs intersubjektiv sinnlich nachvollziehbar. Wie in dem einleitenden Zitat angedeutet geht es nicht um die mimetische Rekonstruktion von Erinnerung, sondern um die Konstruktion der Essenz von Erinnerungen durch filmische Mittel. Obwohl die „abstrakte“ Struktur von SYNDROMES AND A CENTURY von dualistischen Oppositionen bestimmt wird repräsentiert der Film so einen Versuch, die Gegensätze zwischen Subjektiv und Objektiv, Erinnerung und Gegenwart aufzulösen.

2 Kommentare:

  1. Scheiße, wirst ja von Beitrag zu Beitrag besser.. Wo soll das noch hinführen? T. Hoberman? Funny: Mona hat grad die Sight & Sound abonniert und den Film als Bonus auf DVD dazubekommen. Werd den jetzt auf jeden Fall mal ansehen. Ist immer interessant, wenn theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zur Schnittstelle zwischen subjektiver Wahrnehmung und filmischen Ausdrucks erfolgreich von Regisseuren verhandelt werden.

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  2. Ohne das Subjekt der Untersuchung zu kennen vermittelt mir der Artikel sehr plastisch, was thematisiert wird- und macht extrem neugierig auf das "wie" & den Film!

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