Montag, 28. Dezember 2009

Avatar: Drei-D-die-Dritte

(H. Carstensen)

Licht & Lärm bietet bereits treffende Beobachtungen zum Jüngsten James Cameron. Zusammengefasst gehen die so: Ist AVATAR 3D ein faszinierendes Erlebnis? Ja. Reicht das? Nein. Sehe ich genauso so – also: fast.

Der Film ist in erster Linie die Sinne überwältigende Unterhaltung. Und ein wesentlicher Teil des Vergnügens entsteht aus der Erfahrung des 3-D Effekts: sich von ihm überraschen zu lassen und mit ihm vertraut zu werden. Bereits in den Real-Szenen ist der Raum-Effekt eine spannende, sinnliche Erweiterung des bisherigen Kino-Erlebnisses, z.B. wenn die Kamera durch Reihen von Soldaten fährt, oder man glaubt, die Scheibe eines Helikopters, hinter der der Schauspieler agiert, förmlich greifen zu können. Und er färbt ab. Die hybriden Na´vi - halb computergeneriert, halb durch Schauspieler im Motion-Capture-Verfahren lebendig gemacht – profitieren von der Plastizität der Real-Szenen, und gewinnen an Glaubhaftigkeit dadurch, dass sie, wie die„echten“ Darsteller auch, räumlich wahrnehmbar sind. Allerdings gewöhnt man sich an den Effekt, der auf ständige Bewegung angewiesen ist. Gerade ruhigere Passagen wirken unspektakulär – deshalb kommen vermutlich auch nicht so viele vor.

Obwohl oder gerade weil die Story schnell erzählt, und Gut und Böse klar aufgeteilt sind, hat der Film es bei mir (nicht immer, aber…) über weite Strecken geschafft, für die Figuren emotional einzunehmen. Auch hier arbeitet der 3D-Effekt für den Film, erleichtert es, in Pandoras Welt einzutauchen und Teil zu werden. In Zeiten von Erd-Erwärmung, Präkariat und transzendentaler Heimatlosigkeit ist der Na´vi-Cocktail aus New-Age-Spiritualität, „edler Wilden-Exotik“, starker Gemeinschaft und ökologischer Kritik ein berechnend gewähltes Sinnstiftungs-Angebot, die Diegese eine aus kleinsten gemeinsamen Nennern zusammen geschraubte Projektionsfläche für ein globales Publikum – wer sonst könnte die Kosten wieder rein holen -, welche aktuelle politische Auseinandersetzungen mit populären Wünschen verwebt. Nicht sehr tiefgründig, aber immerhin geschickt. Solange man kein Kunstkino erwartet und Spaß an spektakulärem Blockbuster-Kino hat: gut. Wer mir hier eine unkritische Haltung vorwerfen möchte, sei nochmal drauf hingewiesen: B-L-O-C-K-B-U-S-T-E-R...3-0-0-M-I-L-L-I-O-N-E-N---D-O-L-L-A-R. Wie subversiv solls denn werden?

In seiner Kombination von Produktions-, Animations-, und Projektionstechnik ist wohl noch nichts Vergleichbares über die Leinwand geflimmert. Cameron darf sich rühmen, Pionier zu sein. Beim Ausprobieren einer neuen Technik steht diese dann häufig auch im Vordergrund, die Geschichte fällt eher simpel aus (wie hier treffend beschrieben wurde). Parallelen zu TRON (1982) fallen einem ein: in den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts stellten die klobigen Rechteck-Flächen und Raster-Ebenen aus dem Computer den State of the Art da, den heute jede Handheld-Konsole an Komplexität übertrifft. Die Geschichte war eine simple, jugendfreie Queste, die ziemlich offensichtlich auch unabhängig von der Cyberspace-Umgebung, bspw. im Mittelalter funktioniert hätte. Sie bot keine kausale Verbindung zu ihrem Schauplatz. Ersetze den heiligen Gral durch eine Daten-Disk, und los geht die Reise. Es gab keine dialektische Verbindung zwischen Form und Inhalt. Im direkten Vergleich muss man Cameron zu Gute halten, dass sein Probe-Vehikel da inspirierter ist. Die Geschichte über den gelähmten Soldaten, der auf einer fernen Welt im synthetischen Körper ein Zweitleben erhält, greift Phänomene des Cyberspace mit Mitteln des Cyberspace auf. Unter der, für die Cowboy-und-Indianer-Action angenehmen, Prämisse, dass vorgenannter Raum ein realer ist, in dem man trefflich rumballern kann mit konventionellen Waffen. Cameron ist in Sachen Komplexität schon ein paar Schritte weiter gegangen als nur Pflichtprogramm. Ob die 300-Millionen Dollar Investition die Grenzen des Möglichen damit ausgeschöpft hat, ist eine andere Frage, die in der Wunsch-Zukunft besser mit Nein beantwortet werden wird – eine Hoffnung, für die die Aussichten allerdings nicht sehr rosig sind.

Blockbuster sind seit Jahren die Haupt-Einkommensquellen in Hollywood. Im Zeitalter des Downloads und Streams generiert 3-D-Kino ein Produkt, das für die nächsten paar Jahre nicht in den eigenen vier Wänden reproduzierbar sein wird. Nach digitaler Revolution und Krise der Musikindustrie war es die Eventisierung von Live-Musik, die Musikern heute ermöglicht von ihrer Kunst zu (über) leben. Ähnlich holen 3-D-Blockbuster ab sofort Menschen ins Kino, die 12, 50 € bezahlen, damit die Industrie am Leben erhalten und, wie es konventionelle Blockbuster bis jetzt taten, kleinere Filme „mit durchschleifen“. AVATAR ist in meinen Augen aber noch kein Zeichen für den Tod des herkömmlichen Kinos. Schwer vorstellbar, dass sich die Kino-Landschaft insgesamt, in ihrer Breite und Vielfalt, in den nächsten 5 Jahren radikal ändert. Das ist schon allein eine Preisfrage. Und auch der Kulturpessimismus des Rezensenten geht nicht soweit, als dass eine Technik, die sich, solange das Gegenteil noch nicht bewiesen ist, bislang erstmal nur für ein Genre wirklich eignet, das Interesse an allen anderen Genres auslöschen wird. Das Gros der Filme wird noch eine ganze Weile mit 2D, und der über hundert Jahre alten Suspension of Disbelief auskommen müssen. Zumindest, bis Produktion und Projektion billiger sind, und der erste Orson Welles des Digitalen 3-D Zeitalters sich aufschwingt, die inhaltlichen Möglichkeiten der 3-D-Technik voll und ganz an die Gegenwart anzuschließen. Für AVATAR gilt bis dahin: hätte schlimmer kommen können, hätte kürzer sein können, und hätte es THE MATRIX vorher noch nicht gegeben, und dieser hätte seine Premiere in 3-D gefeiert, hätte mich das wahrscheinlich um einiges mehr beeindruckt.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Freitag, 25. Dezember 2009

AVATAR in 3D

(T.Hwa)

Wie Dennis bereits festgestellt hat: James Camerons Film ist die Zukunft des Kinos, aber dies ist nicht unbedingt als Kompliment aufzufassen. Eine dem Film angemessene, weniger milde Ergänzung.

Der Film sieht – in 3D – spektakulär aus. Die Bilder erhalten eine beeindruckende räumliche Tiefenwirkung. Diese wird ergänzt durch eine relativ sparsam eingesetzte „Effektebene,“ auf der Objekte aus der Fläche des Bildes herauszuragen scheinen. Selbst die Untertitel wechseln teilweise die Tiefenebene und werden so in den filmischen Raum integriert, was zum Teil eine irritierende Wirkung hat.
Der Film ist ganz auf das Sehen durch die neue Apparatur angelegt. Der Zuschauer entdeckt zusammen mit der Kamera und seinem intra-diegetischen Avatar die dargestellte Welt. Leider ist diese zu entdeckende Welt ziemlich banal und sogar visuell platt, so als hätte Cameron über die Faszinierende Wirkung der Bilder das elementarste Erzählen vergessen. Nichts an der bemüht, über viele sprachliche Phantasiebezeichnungen eingeführten, Welt fasziniert über den ersten Eindruck, die visuelle Oberfläche hinweg. Die wenig metaphorische Körpertausch-motiv der going-native-Erzählung Kevin Costners wirkt als wenig mehr als ein Platzhalter für die schuldig gebliebene Interaktivität, der ein Videospiel gewidmet sein wird. Was ist der Sinn der ferngesteuerten Körper wenn diese von den Außerirdischen sofort als fremd identifiziert werden?
Beschwert sich J. Hoberman in seiner Kritik über die exzessive political correctness / den mangelnden Patriotismus der Handlung („Worse, the viewer is encouraged to cheer when uniformed American soldiers are blown out of the sky and instead root for a bunch of naked, tree-hugging aborigines led by a renegade white man on a humongous orange polka-dot bat.“), so schreibt dies zum einen dem Plot zuviel diskursive Relevanz zu, und ist zum anderen für alle nicht US-Bürger ziemlich schwer nachhzuvollziehen: die Menschen – ergo Amerikaner – sind genozid-geneigte Militaristen die durchgehend Bush-/Vietnam-Talk von sich geben, die blauen Katzenwesen erinnern an Indianerstämme, leben in romantischem Einklang mit einer pantheistischen Natur und versuchen sich mit Pfeil und Bogen gegen Kampfroboter und –hubschrauber zu wehren. Die Dichotomien des Films sind simpel, aber die Verteilung der Sympathien ist ebenso simpel und nachvollziehbar.
Die vielleicht größte Schwäche des Films sind aber die animierten Darsteller. Es mag mit der mangelnden Erfahrung des Rezensenten mit Animationsfilmen zusammenhängen – aber zu keiner Zeit entwickelte sich ein Bezug zu den katzenartigen Figuren, die sich durch den Film zischen und fauchen, deren hölzernen Art aber die menschlichen Darsteller in nichts nachstehen. Auch die weniger als eindimensionale (see what I did there?) Figurenzeichnung und die lächerlichen Dialoge aus der One-liner-Drehbuchschule des Actionkinos der 80er tragen nicht zu der schauspielerischen Klasse aller Akteure bei.
Das Problem von AVATAR ist weniger, dass der Film aussieht wie ein Videospiel, das Problem ist, dass er schlechter erzählt und weniger Immersion ermöglicht als ein Videospiel.

Man wird sich in Zukunft daran gewöhnen müssen im Kinosaal eine Brille zu tragen und einfach den visuellen „Ride“ zu genießen.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Donnerstag, 24. Dezember 2009

Reaktionen zu AVATAR

(D. Schanz)

Zunächst einmal vorweg: AVATAR ist der verdammt noch mal beste Film des Jahres, wenn nicht sogar des Jahrzehnts. Nee, quatsch, kleiner Scherz. Die allgemeine Hysterie, die momentan um diesen Film gemacht wird, kann ich nur bedingt verstehen und teilen möchte ich sie schon gar nicht. Zugegeben, Camerons Neuester ist in der Tat bahnbrechend – allein insofern, als dass man sich nach diesem tricktechnischen Spektakel nun kaum mehr vorstellen kann, dass Hollywood zukünftig noch dreistellige Millionenbeträge in Produktionen pumpen wird, die auf die hier in bemerkenswerter Selbstverständlichkeit ausgestellte, neuartige 3-D Technik zu verzichten wagen. Ob man es wahrhaben will oder nicht: AVATAR gibt einen fast dreistündigen, mit jeder Menge politisch korrektem Sci-Fi-Eskapismus garnierten Ausblick auf die Zukunft des (Blockbuster-)Kinos. Insofern hätte es wohl keinen trefflicheren Film geben können, um die vergangene Dekade abzuschließen und die nächste einzuläuten, die, da leg ich mich fest, vom 3-D Kino dominiert werden wird. Schon jetzt kann ich mir bildhaft vorstellen, dass kommende Generationen des Mainstream-Publikums dem traditionellen zweidimensionalen Film ähnlich missbilligend begegnen werden, wie es heute gegenüber dem klassischen Schwarzweiß-Film allzu häufig der Fall ist. Dabei ist es vollkommen unerheblich, dass der dreidimensionale Effekt nach spätestens einer halben Stunde gar nicht mehr groß auffällt, geschweige denn weiterhin in Staunen versetzt. Viel wichtiger ist, dass dem Zuschauer jene einstmals für perfekt gehaltene Raumillusion des zweidimensionalen Films plötzlich unzulänglich erscheinen wird. “Freuen“ wir uns also schon mal auf kommende 3-D re-releases digital unterfütterter Jungklassiker des Unterhaltungskinos wie MATRIX, SPIDERMAN, und LORD OF THE RINGS.

Und doch ändert all dies nichts daran, dass AVATAR in spätestens zehn Jahren von der breiten Masse nur noch ein müdes, wenn auch wohlwollendes Lächeln ernten wird. Denn tricktechnische Pionierarbeit in der Filmkunst altert nun mal ebenso rasch wie unvorteilhaft – und außer dieser hat Camerons Film leider nicht allzu viel zu bieten. Zu generisch, zu vorhersehbar, zu klischeehaft gibt sich diese in den Grundzügen nur allzu bekannte, fantastische Mär einer allen Widrigkeiten trotzenden, transkulturellen Initiationsgeschichte. Seine Formelhaftigkeit indes ist nicht das eigentliche Problem des Films. Vielmehr scheitert Cameron genau da wo in früheren Jahren noch seine großen Stärken lagen: einen ikonischen Moment oder auch nur ein einziges Bild, das auf lange Sicht seinen Weg ins kulturelle Gedächtnis finden könnte, sucht man in AVATAR vergebens.

Abgesehen vom durchaus beeindruckenden Aufzeigen der Möglichkeiten, die im dreidimensional gedrehten Film stecken, ist die visuelle Ästhetik des Films nämlich geradezu erschreckend banal. Das hat natürlich vielfältige Gründe. Der meines Erachtens nach zwingendste ist jedoch: AVATAR sieht aus wie ein Video-Spiel. Das bezieht sich nun nicht so sehr – wie man nach dem ersten offiziellen Trailer zum Film hätte befürchten können – auf die Texturen, also auf die im Computer generierte Oberfläche der Welt, die Cameron hier erschaffen hat, beziehungsweise der Figuren, die diese bevölkern. Im Gegenteil sogar – wirken die Na’vi doch überraschend lebendig und vor allem ihr Zusammenspiel mit der überwiegend digitalen Umgebung, durch die sie sich bewegen, geradezu natürlich. Viel mehr ist es die Logik, die seiner visuellen Ästhetik zugrunde liegt, die Camerons Film mit einschlägigen Vertretern des interaktiven Mediums, wie etwa den jüngsten „GTA“-Spielen, gemeinsam hat: Hier wie dort ist die digital kreierte Welt in all ihrem fetischistischen Detailreichtum wesentlich wichtiger als der Ausschnitt, durch den die virtuelle Kamera das Geschehen präsentiert. Die Kamera als einstige (ästhetisch) regulierende und sinnschaffende Primärinstanz des filmischen Paradigmas ist bei AVATAR zum Wasserträger degradiert, der eifrig damit beschäftigt ist, die multimillionenschwere Rechenarbeit des visual effects-Teams möglichst dynamisch abzubilden. Nicht mehr und nicht weniger wird von der Kamera gefordert. Das hat zur Folge, dass sie zumeist plan- und orientierungslos, mitunter fast ehrfürchtig staunend, so scheint es, durch diese durch und durch künstliche Welt taumelt – nicht unähnlich der virtuellen Kamera in „GTA“, die dem Anti-Helden Niko aus unterschiedlichen, scheinbar willkürlich generierten Winkeln und Abständen durch die Straßen von „Liberty City“ folgt. Eine wohldurchdachte mise en scène sieht anders aus.

Fast unaufhörlich ist Camerons Kamera in Bewegung und kommt nur selten zur Ruhe, die doch eigentlich – das scheint der ehemalige, und bei der kommenden Oscarverleihung vermutlich wiedergekrönte, „King of the World“ vor lauter Stolz auf sein aktuellstes Fabelreich vergessen zu haben – so unendlich wichtig ist für ein pointiertes Erzählen. Und wenn er der Kamera dann doch mal einen Moment des Innehaltens gönnt, wird dieser meist jäh unterbrochen durch die durchweg plumpe Montage, die den Zuschauer schon viel zu früh wieder in die nächste Szene schleudert. Emotionale Anteilnahme mit den Figuren, geschweige denn Bilder, die sich in das Unterbewusstsein des Zuschauers brennen, entstehen so natürlich nicht. Ohnehin, die Montage: ein Albtraum für Verfechter des klassischen Continuity-Editings, schneidet sie rigoros alles zusammen was sich nur irgendwie schnell genug bewegt. Funktionieren tut das, keine Frage, denn ständige Bewegung ist – das wissen auch Camerons Kollegen wie Michael Bay und Konsorten nur zu gut – der kleinste gemeinsame Nenner beim Zusammensetzen zweier Einstellungen. Wenn jedoch ästhetische Entscheidungen nur noch allein den Gesetzmäßigkeiten einer oberflächlichen Dynamik verpflichtet sind, dann macht sich schnell Beliebigkeit und letztlich Langeweile breit. Das mag vielleicht ausreichen, das Kino als Hort der Massenunterhaltung zu revolutionieren, den Film als Kunstform jedoch bringt AVATAR keinen Schritt weiter.

Zum Abschluss noch paar Worte zu Story und Plot von AVATAR. Andere Kritiker haben bereits zurecht auf das wiederaufgewärmte DER MIT DEM WOLF TANZT-Prinzip der Erzählung hingewiesen: naturverbundene Alternativzivilisation wird von (neo-)kolonialistischer Macht, die ersterer in Sachen technologischer Fortschritt und arrogante Gewissenlosigkeit um Lichtjahre voraus ist, in ihrem Dasein bedroht und erhält unverhoffte Hilfe eines der feindlichen Spezies angehörigen Individuums. So weit, so altbekannt. Was dann allerdings doch überrascht, ist, dass AVATAR sich keineswegs mit der imaginären Wiedergutmachung der genozidalen Nationalgeschichte der USA zufrieden gibt, sondern, in Anbetracht des aktuellen geopolitischen Kontextes, auch eine klare Position hinsichtlich der nur allzu gegenwärtigen neo-imperialistischen US-„Aktivitäten“ in Afghanistan bezieht. Die klassische gut/böse-Dichotomie wird dann auch höchst eindeutig besetzt mit friedlich im Einklang mit der Natur und dem eigenen Glauben lebenden Exoten auf der einen Seite und militärisch gestützten, nach wertvollen Rohstoffen geifernden amerikanischen Interessensgruppen ohne Sinn und Verständnis für alternative Lebensformen auf der anderen. AVATAR versucht, wie jede gutgemeinte Science-Fiction, eine möglichst scharfsinnige Aussage über Zukunft, Vergangenheit und vor allem Gegenwart zugleich zu treffen. Natürlich kann und will auch diese Erzählung nicht auf den Typus ’weißer Amerikaner’ als Identifikationsfigur verzichten, jedoch stellt sie sich hier ganz klar mit ihm auf die Seite der Eingeborenen – und lässt ihn gegen Ende sogar zum finalen Guerilla-Kampf aufrufen. Zu diesem Zeitpunkt im Film hätte es mich nicht überrascht, den ein oder anderen galligen „Yankee, go home!“-Kampfschrei aus der Ecke der Na’vi zu hören, dicht gefolgt von einem versiert abgefeuerten pandorrischen Pfeil-und-Bogen Geschoss. Dass sich Cameron dann nicht mal am Ende mit einer diplomatischen Lösung des Konflikts zufriedengibt, mag zwar vor allem dem höheren Unterhaltungswert der action-reicheren Variante geschuldet sein, ist aber nichtsdestotrotz eine durchaus wagemutige Entscheidung für den Regisseur, der sich vor etwa fünfzehn Jahren mit TRUE LIES den wohl unverhohlen patriotischsten Hollywood-Actioner der 90er zu Schulden hat kommen lassen. Dieser erfrischend direkte, unverhofft radikale ideologische Standpunkt macht AVATAR nicht unbedingt zu einem besseren, wohl aber zu einem zumindest narrativ interessanteren Film als ich im Vorfeld erwartet hatte.



p.s.: Der bizarre Umstand, dass die Leute auf den billigen Plätzen nach der (wohlgemerkt regulären) Vorführung geklatscht haben(!), hat mich irgendwie unangenehm an ganz ähnliche Reaktionen auf erfolgreiche Landungen bei Pauschalflugreisen erinnert. Das kulturpessimistische Urteil, die Kunstform Film verkomme zusehends zur Kommodität, erhält in diesem Zusammenhang eine ganz neue Qualität.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Notizen zu SYNECHDOCHE, NEW YORK (2009)

(H. Carstensen)


Caden Cotard wacht auf und bleibt liegen. Im Radio verkündet die Literatur-Professorin den Herbstanfang, zitiert Rilke: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Als Caden Cotard in der Küche ankommt, mit seiner Frau und Tochter zu frühstücken beginnt, datiert die Zeitung auf den 17.Oktober, ist die Milch, deren Mindesthaltbarkeit am 20.ten endet, plötzlich schlecht, und wünscht der Radiosprecher wenige Einstellungen später „Happy Halloween!“. Lautlos inszeniert ist der Einstieg in das zeitverzerrte Leben des vierzigjährigen Theater-Regisseurs in SYNECHDOCHE, NEW YORK.

Caden ist ein Hypochonder, besessen von der Angst zu sterben, bevor er seinem Leben Bedeutung gegeben hat. Einsam gleitet er durch zwei Monate, als sei es derselbe Morgen. Es sind nur winzige Indices, die in rascher, beiläufiger Montage auf die Dauer der erzählten Zeit verweisen, die stets präsent ist und sich doch immer entzieht, wie der Virus im Cartoon, der im Hintergrund über die Mattscheibe flimmert, und den die Off-Stimme beschreibt als „etwas Unsichtbares im Gewebe des Körpers“. Die stetig fließenden Schnitte, und die unaufgeregte Inszenierung des leicht chaotischen Frühstücks im heruntergekommenen Heim der Cotards emulieren Cadens´ Wahrnehmung: eine Welt voller flüchtiger Spuren, deren Fülle man nicht Herr werden kann, deren Bedeutung irgendwo zwischen Fragment, Assoziation und Unannehmlichkeit liegt, und die sich im Fluss der Augenblicke schon wieder entzieht, bevor man ihr auf den Grund geht. Die ersten Minuten von SYNECHDOCHE NEW YORK sind voll mit Bedeutungen.

Nur mit Beziehungen, beispielsweise zu Frau Adele und Tochter Olive, scheint Caden Probleme zu haben. Er liest Zeitung und ist ironisch amüsiert über den ersten Fall von Vogelgrippe in der Türkei („Birdflu in Turkey - the country, not the bird, obviously. That´s ironic.“), doch keine der beiden möchte sein Amüsement so recht teilen. Jeder ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Eingangs-Sequenz ist durchsetzt von Miniaturen dessen; woraus sich SYNECHDOCHE NEW YORK zusammensetzt, und zeigen an, wie Regisseur Kaufmann mit der zum Strukturprinzip erhobenen rhetorischen Figur in den kommenden zwei Stunden umgeht: Teile geschichtet auf Teile, die zwar eine immer komplexere Verweisstruktur potentieller Bedeutung erschaffen, aber nie das gesuchte Ganze ergeben, und sich stattdessen vor den Augenblick stellen.

Konventionelle Chronologie interessiert Kaufmann wenig. Nachdem Adele und die vierjährige Olive wenig später physisch aus Cadens Leben verschwinden, weil Adele den ewig Schlechtgelaunten für ihre Malerei-Karriere in Berlin verlässt, bleibt seine innere Uhr an diesem Punkt stehen, auch wenn die äußere Welt sich um Jahre weiter dreht. Ähnlich wie schon in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTTLES MIND (Michel Gondry, 2004) definieren Gefühle und Erinnerungen der Hauptfigur die Wahrnehmung seiner Welt. Auch wenn sich psychosomatische und handfeste Leiden von Cadence heftig und schubhaft als Zittern, Blut in Stuhl und Urin oder blutigen Pusteln im Gesicht manifestieren, sich im Laufe der Story zu einer grotesk großen, täglichen Hand voll Tabletten summieren, so wird er doch alt, und überlebt Eltern, Frau und Tochter. Es ist die neurotische Angst der professionellen Zeichensetzer Caden / Kaufmann vor den Zeichen von Krankheit und Tod, die die teils drastische, teils liebevoll-schrullige Inszenierung von Rasierunfall, Speichelfluss-Problem und Impotenz motiviert, und weniger die reale Bedrohung selbst.

Das ultimative Sinnbild für Cadens Motivation, dass all seine Äußerungen und Handlungen zu einem sich Abarbeiten am inneren, ungelösten Konflikt zwischen Kreativität, Tod, und ungelebtem Leben verdichtet, ist jedoch das Set seines Theaterprojekts, seinem Opus Magnum: die originalgetreue Nachbildung New Yorks´ in einem Lagerhaus in New York (das natürlich eine Lagerhalle enthält, in der eine weitere Lagerhalle steht usw.) Eine Synekdoche, die mit wachsender Komplexität immer weniger Teil, immer mehr Ganzes ist, kaum noch vom Original zu unterscheiden. Längst ist das Projekt selbst zu einer kleinen Stadt geworden; gibt es Schauspieler in der Lagerhalle im Lagerhaus, die die Schauspieler aus dem Lagerhaus spielen, die wiederum Charaktere aus dem „echten“ Leben aka der Diegese des Films spielen. Auch Caden findet sich bald selbst in seinem Stück wieder. Sammy, ein Mann der ihm zwar nicht ähnlich sieht, aber ihn die letzten 20 Jahre beobachtet hat, und Caden besser kennt, als der sich selbst, übernimmt seine Rolle. Als Cadens Alter Ego stirbt, wird er folglich auch von einem Schauspieler ersetzt, der Sammy ähnelt, und nicht Caden. Die Kunst startet als Mimesis und endet als Simulacrum - einer der Titel für das Stück, die sich Caden im Lauf des Films überlegt und gleichzeitig eine von zahlreichen Miniaturen, die Kaufmann dank der verschachtelten Konstruktion multipler, sich spiegelnder Wirklichkeitsebenen überall in SYNCEHDOCHE verstreuen kann.

Kann der Film gelesen werden als Fingerübung in postmoderner Ästhetik oder Kommentar auf unsere artifizielle Gegenwart voller designter Oberflächen, so macht er - und das ist seine Schönheit - nicht dabei halt. Der obsessiv detail-versessene Drehbuchautor Kaufmann, erstmals im Regiestuhl, versammelt Motive und Techniken vorangegangener Filme (Identitätswechsel + magischer Realismus in BEING JOHN MALKOVICH / Unmöglichkeit authentischer Repräsentation + mis-en-abyme-Spiegelungen in ADAPTATION / Konstruiertheit von Erinnerung und Identität + Rückkehr in ihre „Kulissen“ in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND) zu einem Ansatz, der dem ziemlich nahe kommt, was der Schriftsteller David Foster Wallace (INFINITE JEST), ähnlich vom Formalen besessen, in einem Interview 2006 als kreatives Ideal beschrieb: Many of the writers I admire are interested in using postmodern techniques, postmodern aesthetics to discuss or represent very old traditional human verities that have to do with spirituality, emotion and community - ideas that the avant-garde would consider very old fashioned. So there´s a kind of melding. It´s using postmodern formal techniques for very traditional ends. That´s a group I would want to belong to.” Es fällt leicht zu behaupten, dass der Scrpitwriter-turned-director Kaufmann sich zu dieser Gruppe Künstler zählen ließe.

Kaufmann zielt nicht auf „schau wie clever“ - Momente ab. Er sucht wie sein Alter Ego Caden nach einer Form, die Gegenwart und Befinden in voller Komplexität repräsentiert, ohne in die „Hollywood“-Falle zu tappen, den Zuschauer anzulügen, und den Stoff der Formel zu opfern. Caden will ein Stück von „brutaler Ehrlichkeit“ schaffen, nichts dabei auslassen – und macht dies dann eben auch einfach nicht. Wenn für Shakespeare die ganze Welt noch eine Bühne war, erschafft Caden auf der Bühne buchstäblich eine ganze Welt. Die Frage, ob die Kunst das Leben, oder das Leben die Kunst imitiert, stellt sich nach 17 Jahren Proben nicht mehr: beide sind längst eins geworden. Anders als Caden versteht Kaufmann sich der Form als Verdichtungs-Instrument zu bedienen. Sein stetiges Aufmerksam-machen auf die vierte Wand und ihre Durchbrechung schützen den Film davor, ein weiteres Simulacrum zu werden. Er lässt keine Zweifel aufkommen, dass trotz allem formalen Exzess der Motor des Films immer die Emotionen des Protagonisten bleiben. Vergebens, die Fülle poetischer Einfälle und Momente aufzuzählen, die SYNECHDOCHE NEW YORK so sehenswert und typisch Kaufmann machen. Aber sie belegen, wie dieser als Erzähler seiner Figur einen Schritt voraus ist. Wenn Cadens Einsamkeit vorm Sex weinend aus ihm heraus bricht, wirkt er wie übertölpelt von den seelischen Abgründen, die sich auftun, wenn er sich für einen Moment aus seiner kontrollierten Umgebung begibt. Wenn er sich auf die Suche nach seiner Tochter macht, oder er in der Rolle einer Anderen das Apartment seiner Exfrau putzt, um ihr auf diese Weise nahe sein zu können (und die Ironie des Films es will, das jene Rolle der „Anderen“ in der metadiegetischen Welt des Lagerhauses später tatsächlich seine eigene wird), folgt auf die perfekte Inszenierung der Spiegelungen, Doppelungen und Verwirrungen immer der Bruch, zielen Absurdität und Übersteigerung auf die Momente, in denen sich die Figuren sehr menschlich überfordert zeigen, und das postmoderne Spiel erden.

SYNCHEDOCHE NEW YORK ist aus clever angeordneten Kulissen gebaut, die sich ironisch spiegeln – die aber nie menschenleer sind. Das Leiden an der Einsamkeit der eigenen Existenz, daran, eine Sinn zu finden, Liebe, oder Vergebung, sind klassische Themen. Postklassisch bleibt bei Kaufmann die Verpackung, mit der er sich Glaubwürdigkeit erspielt: als richte er sich an ein Publikum, dass erst dem vertraut, der eine hyperreale Filmillusion erschafft, sie erfasst, durchdringt, und meistert - um sie dann einzureißen, und zu verstehen zu geben, dass seine wie auch ihre Wahrnehmung dessen, was sie als authentisch erachten, doch erst hinter diesen Fassaden beginnt – um in der nächsten dialektischen Biege daran zu erinnern, dass ihre Interieurs sich aus Flohmarkt- und Ikea-Stücken rekrutieren, aus Dylon, Jackson, Elliot Smith, aus Bausteinen der medialen Consumer-Culture - dass sie selbst durch und durch kultiviert, entfremdet, synthetisch sind. Sind all diese künstlichen Konstrukte passender Ausdruck von dem „wie es ist“, bleibt die Frage nach dem „wie es sein soll“, oder dem „ob das gut ist“ von all den schönen Objekten gnadenlos unbeantwortet. Kaufmann´s Filme verhandeln dies über die Form, so dass der filmische Raum frei bleibt für das menschliche Drama. Die Suche nach Sinn setzt sich fort, bis zum Ende. Jenes ist von Anfang an eingebaut wie Rilkes Herbsttag in der ersten Szene. Der Zersetzungsprozess auf dem Weg dorthin ist hässlich, wie Cadens diverse Krankheiten zeigen. Erträglich, so Kaufmann, wird dieser Prozess erst durch die Vergebung eines menschlichen Gegenübers, ganz gleich, mit wie viel Ästhetik er in der Zwischenzeit abgepudert, parfümiert und designt wird. So wie am Ende von SYNECHDOCHE, der mit einer an den Neorealismus erinnernden Hoffnung-in-Trümmern-Szene schließt. Postmoderne Verpackung, humanistischer Inhalt, Mittel und Zweck: D.F. Wallace hätte das sicher gefallen.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Dienstag, 22. Dezember 2009

Zurück in den DVD-Räumen Seouls: Bong Joon-Hos MOTHER (2009)

(T.Hwa)

Eine ältere Frau bewegt sich durch eine wehende Graslandschaft auf die Kamera zu. Sie scheint tief verstört. Nachdem durch eine lange, unbewegte Einstellung eine Erwartungshaltung beim Zuschauer aufgebaut wurde, beginnt sie sich langsam zu unhörbarer Musik zu wiegen. Ihr Gesicht versucht sich an einem Lächeln – und fällt in tiefe Verzweiflung zurück.

Eine kurze Kritik, frei von Spoilern.

Wie schon MEMORIES OF MURDER (2009) bewegt sich Bong Joon-Hos Thriller MOTHER zwischen den Grenzen von Genre- und Autorenkino. Wieder ist der Schauplatz eines Mordes eine scheinbar so unschuldige koreanische Kleinstadt, wieder gibt es immer wieder absurde Momente, welche die Geschlossenheit der wendungsreichen Genreerzählung aufbrechen. Anders als in dem früheren Film ist es hier eine Mutter, die das Verbrechen aufklären will, dessen ihr geistig behinderter Sohn verdächtigt wird.
Werden Mütter (nicht nur in asiatischen Filmen) häufig überhöht und damit aus der Perspektive eines Kindes dargestellt, dass in seiner Beziehung nur bedingungslose Zuneigung oder Abneigung empfinden kann, so skizziert Bong die psychologischen Hintergründe des Figurentypus. Dabei wird der Film vor allem durch das nuancierte Spiel von Kim Hye-ja getragen, die der Figur der koreanischen Miss Marple eine bemerkenswerte mimische Ambivalenz verleiht.
Ist es in MEMOIRES OF MURDER vor allem auch das offene Ende, das den Film von anderen Thrillern unterscheidet, so wiederholt Bong diese Wendung in MOTHER nicht. Statt eines dramatischen Endes setzt der Film auf einen relativ langen „Epilog,“ der dem Zuschauer die Geschlossenheit der Dramaturgie auf emotionaler Ebene vorenthält.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Dienstag, 8. Dezember 2009

„Dances with Japanese“ – Takita Yôjiros DEPARTURES

(T.Hwa)

Es scheint nicht schwer zu erkennen, was die Academy an DEPARTURES (J 2008, R: Takita Yôjiro), dem diesjährigen Gewinner des Oscars für den besten ausländischen Film, schätzt. Die Geschichte eines jungen Bestattungsunternehmers wider willens, der über die feinsinnig ausgeführte rituelle Waschung und Herrichtung von Leichen zu sich selbst wie auch zu seiner Vergangenheit findet, bietet jenen sanften Exotismus Hollywoods: das Fremde, das primär als Spiegel des Eigenen dient.


Exotik war einmal sehr einfach für Hollywood. Ob das marokkanische Casablanca oder die russischen Schneelandschaften, die für DOKTOR ZHIVAGO (1965, R: David Lean) in Spanien aus Schaum entstanden, die Fremde diente als eine Kulisse, auf der die meist westlichen Protagonisten ihre Konflikte austragen konnten – und zugleich als völlig synthetische Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte des Publikums. Nachdem New Hollywood das Fremd-werden des scheinbar so vertrauten Amerikas thematisierte, ist dieser naive Umgang mit Exotik einer kulturrelativistischen Position gewichen, die ethnografische Begegnungen mit dem Fremden inszeniert. Immer wieder erscheint diese Begegnung dabei als regeneratives Mittel gegen die Sinndefizite der eigenen Kultur. Und so verteidigen Kevin Costner und Tom Cruise als Veteranen des amerikanischen Bürgerkriegs, des ersten großen Traumas der jungen Nation, einen Indianerstamm oder einen Samurai-Clan bei dem sie nach anfänglichem Unverständnis und einigen Initiationsriten heimisch geworden sind – und damit zugleich die beiden Kulturen gemeinsamen, scheinbar universalen Prinzipien und Werte. Unter der kulturrelativistischen Oberfläche berufen sich DANCES WITH WOLVES (1990; R: Kevin Costner) und LAST SAMURAI (2003; R: Edward Zwick) auf die großen Universalismen Hollywoods. Zugleich basieren die Geschichten auf einer heroischen Überhöhung des Fremden, wie sie auch in dem früheren Exotismus Hollywoods eine Rolle spielt.

DEPARTURES inszeniert eine eben solche ethnografische Begegnung ohne Japan zu verlassen. Arbeitet der Protagonist zunächst im urbanen Tokyo als Cellist in einem Orchester, das Beethovens Neunte schmettert (für Japaner nach Wagner sicher der Inbegriff westlicher Musik), so stellt für ihn die ritualisierten Zeremonien im Bestattungsinstitut eine Rückkehr in die fremd gewordene eigene Kultur dar, welche der räumliche Bewegung zurück in sein Elternhaus entspricht. Nach einer Reihe von Initiationen, die mit einem zunehmenden Verständnis für die Funktion der von ihm durchgeführten Handlungen einhergehen, beweist er schließlich sich selbst und den Personen in seiner Umgebung sein Handwerk und demonstriert durch dieses Gesellenstück seine Gruppenzugehörigkeit.
Das präsentierte (Auto-)Stereotyp japanischer Kultur und Tradition ist dabei weitestgehend deckungsgleich mit westlichen Vorstellungen, die in der Teezeremonie eine romantische Hingabe an Details im Sinne eines l’art pour l’art, und in Steingärten den Ausdruck einer von gewalttätiger Vergangenheit unbelasteten Spiritualität sieht. Diese Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbild ist in dem Kontext zu sehen, dass „Japanizität“ im Zusammenhang zunehmender Konvergenztendenzen nationaler Kinematographien und Filmmärkten zu einem wertvollen Markenzeichen geworden. Sichtbarstes Zeichen dieser Umstellung des Exports von materiellen zu intellektuellen Produkten stellt „Hello Kitty“ dar, die omnipräsente, bemerkenswert ausdruckslose katzenartige Figur, die seit 2008 als goodwill ambassador Japan als Tourismusziel vermarkten soll. Takita lässt seine Hauptfigur aus dem modernen Tokyo eine anachronistische japanische Kultur wiederentdecken, die längst (von Japanern selbst) zu Folklore gemacht wurde. Weniger als die formvollendeten Bestattungsriten stellen die wenigen Momente des Films, in denen sich die Herkunft des Regisseurs aus der notorisch kreativen Pink-Film Szene in einem ehrfurchtslosen Sinn für absurden Witz äußern, die Japanizität des Films dar.

Dabei ist DEPARTURES bei weitem kein schlechter Film. Gerade zu Beginn gelingt es dem Regisseur zum Teil, in feinfühlig inszenierten Szenen die leise Sentimentalität Ozus mit einem nicht weniger zurückhaltenden Situationshumor zu verbinden. Zunehmend weichen diese leiseren Töne jedoch einer überdeutlichen Art des Erzählens, die sich auch in der Inszenierung immer mehr an Hollywood annähert. Eine Montagesequenz zeigt den Protagonisten beim Cellospielen in idyllischen Landschaften, die dem Wechsel der Jahreszeiten folgen. Die Handlung wird durch symbolische Motive gedoppelt: Lachse kehren zu dem Ort ihrer Geburt zurück und vergehen, Steine kommunizieren Emotionen über die Grenze von Generationen hinweg. Mehr als das ländliche Setting im Norden Japans ist es auch hier ein imaginärer Raum, der die Leinwand für eine unschuldige, sensible Orchestratur der Gefühle darstellt, nach der sich auch die Academy zurückzusehnen scheint.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Freitag, 4. Dezember 2009

THE DUST OF TIME - Angelopoulos: out!

(H. Carstensen)

Manchmal ist es das Beste, nichts von der Arbeit eines Regisseurs zu wissen. Auf einem leeren Blatt anzufangen. Ohne Kontext. Ohne Vorwissen. Auf in Theo Angelopoulos´ letzten Film: THE DUST OF TIME, jetzt in den Kinos dieser Film-, Medien und Wirtschafts- Republik.Im ehemaligen Porno-Kino im Bleichen-Viertel, dem kleinen Juwel der nicht vorhandenen Mainzer Kino-Szene: dem PALATIN. Auf einer Leinwand, die den Charme einer Home-Entertainment – Anlage mit der Dunkelheit eines öffentlichen Raumes verbindet, den man mit Freunden teilt, die man noch nicht kennt. Das Setting passt zur Inszenierung wie ein Herren-Magazin ins Altersheim. Nur ohne Sex. Traurig? Ja. Der alte Grieche Angelopoulos situiert seinen jüngsten Film in der Erinnerung, dieser Zeit zwischen dem Jetzt und Hier und der Vergangenheit, die den Moment einholt, einfärbt, deutet und: determiniert? Es gibt kein jetzt ohne Geschichte. Im Fall von THE DUST OF TIME die Geschichte der griechischen Diaspora, so steht es auf dem Waschzettel. Der Film dreht sich um die griechischen Kommunisten Elin und Spyros, die 1952, nach gescheiterten Umsturzbemühungen in der Heimat, im Mutterland des Kommunismus Zuflucht suchen. Und erfahren müssen, dass der große Bruder Stalin mit Misstrauen und Repression regiert. Sie werden getrennt, und Spyros nimmt große Gefahren auf sich, um seine Geliebte wieder zu finden. Griechenland, so das Urteil der Geschichte, war nur ein Bauernopfer auf der politischen Landkarte des Kalten Krieges. Die Kommunisten, die damals den Bürgerkrieg verloren, wurden aus dem Land gejagt, nachdem pro-westliche Kräfte die Macht eroberten. In der Sowjetunion standen sie unter Beobachtung. Die Protagonisten des Films sind für ein falsches Versprechen zu Entwurzelten geworden. Soweit der historische Kontext. Dem Film geht es um die Liebe zwischen Eleni und Spyros, die Grenzen, Ideologien und die Zeit überwindet, um zu sich zu finden, und die letzten Fragen zu beantworten. Retrospektiv. Zunächst bildet sich das erstmal ab in schier unerträglich in die Kamera proklamiertem Pathos. Cut.
Für den Rückblick sorgt die zweite Erzähl-Ebene, auf der griechische Regisseur „A.“ (armer Willem Dafoe, zuletzt in Szene gesetzt von Lars von Trier, siehe hier) versucht, trotz familiärer Widrigkeiten seinen jüngsten Film abzuschließen: ein Melodram über seine Eltern, eben jene Eleni und jenen Spyros, die sich in der anderen Ebene mit der Kehrseite ihrer Überzeugungen herumschlagen müssen. Zwar sind sie Dissidenten und kommunistischer Bruder und Schwester, doch mit Heimat hat die Existenz in der Lager-ähnlichen Stadt in Sibirien, in die Eleni verschickt wurde, und aus der Spyros sie befreien will, nichts zu tun. Ich verließ das Kino nach ungefähr einer Stunde, und kann so auch keine Spoiler verbrechen.
Die Verquickung von Familiengeflecht, und gegenwärtigem Kampf des Regisseurs „A.“, seine Erzählung zu beenden, der Zerrissenheit und den Zweifeln in Dafoes´ Figur über die Echos der anderen Erzählung aus der Vergangenheit, die, so will es der Film, auf seine Gegenwart reflektiert, ließen mich kalt. Niemals war es die fehlende Legitimität der Kontemplation darüber, wie sich die Vergangenheit in die Gegenwart einschreibt, die mich abgeturnt hat. Und schon gar nicht der verführerische Gestus der Kamera-Arbeit, die in stetiger, ruhiger Bewegung und langsamen Fahrten Schnitte obsolet zu machen schien, und alles tat, um den Zuschauer in das Gezeigte hinein zu ziehen. Tatsächlich war letzteres eine herausragende ästhetische Qualität des Films. Auch die detailreich texturierten Bilder in braun, mattem grün, grau und Schnee-weiss, vor Patina strotzend, und eine sozialistische Tristesse par exzelence evozierend, mit verfallenen Gemeinde-Baracken und abmontierten Stalin-Büsten (der just stirbt in der erzählten Zeit), stimmig in Farbkonzept und wundervoll in der Mis-en-Scene, sind nicht dafür verantwortlich, dass ich mit dem Film nicht warm wurde. Sie lösen ein, was der Titel suggeriert. Was stimmt also nicht, wenn der goldene Schnitt in die Kamera strahlt, sich an perfekt ausgeleuchteter, schrottreifer real-sozialismus-Lager-Strassenbahn reibt, und mittels Wochenschau-Filmstreifen in die diegetische Gegenwart Dafoes´ Material-sichtender Regisseurs-Figur herüber transzendiert, als ihm -und: draufgepratzt dem Zuschauer- bewusst wird, wie sehr er selbst ein Produkt dieser ideologischen und emotionalen Verwerfungen des umkämpften 20. Jahrhunderts ist – durch seine Eltern, die gemäß des psychologischen Grundsatzes jeder Familien-Aufstellung, man kann nicht – „nicht-kommunizieren“ ihren Sprössling geprägt haben – was turnt so ab?

Die Figuren, die letzte Wahrheiten in die Kamera proklamieren, als gelte es, noch vor dem jüngsten Gericht die Seele zu reinigen. Sie lassen dem Zuschauer keine Chance, keine Interpretationsmöglichkeit, keinen Zweifel: „Ich wollte Dich nie verletzen. Du wusstest immer, dass ich die Frau eines anderen Mannes bin. Du hast gewusst, dass es früher oder später so kommt.“ Das sagt Eleni, als sie sich von ihrem „Hitler“-Shagg Bruno Ganz alias dem deutschen Juden Jacob trennt, mit dem sie sich während ihres Lager-Aufenthaltes, getrennt von Spyros, aus absolut legitimer Überlebensnotwendigkeit das Lager geteilt hat. Voller Ernst, ins Off blickend. Bruno neben sich. Der seinerseits ins Off blickt, als stünde dort die Mama, die ihm die kleidsame Pudelmütze so süß ins Gesicht gerückt hat (wohl eher eine geschmackvolle, erfolgreich arbeitende Kostümbildnerin). Und seinerseits Angelopoulos´sche Dialoge zitiert, die schon auf dem Papier tot waren. Denn kein lebender Mensch spricht so... Once again: keine moralischen Urteile an dieser Stelle. Kein Dissenz mit der emotionalen Verfasstheit der Figuren per se. Keine Bitterkeit über die Eindeutigkeit und Teleologie der Erzählung, soweit ich sie gesehen habe. Kein Hass auf das Kunstkino als solches. Ein alter Mann macht auf hohem filmischen Niveau Frieden mit seinem inneren Drehbuch. Einverstanden. Nur konnte ich mir den Streifen nicht zu Ende ansehen, denn: Wozu braucht Angelopoulos mich dazu?
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Samstag, 7. November 2009

Paul Verhoevens Provokation der Übererfüllung

(T.Hwa)

In diesem Post wird es nicht um Quentin Tarantino gehen. Während dieser regelmäßig viel Aufmerksamkeit (hier, hier und hier) für seine „subversiven“ Genre-Etüden erhält, wird der holländische Regisseur Paul Verhoeven häufig übersehen, gerade weil sein Ansatz zugleich radikaler und missverständlicher ist als der Tarantinos. Eine kurze Skizze seiner Provokation durch Übererfüllung von Erwartungen anhand dreier Beispiele.


Verhoevens Strategie ist bereits in dem sonst relativ konventionellen Thriller BASIC INSTINCT (1992) angelegt. Die zum Exzessiven neigende Inszenierung des Mordes zu Beginn des Films entspricht dabei der Kombination von Sex und Gewalt, deren exploitative Attraktivität der Film nutzt und die zu einem Markenzeichen des Regisseurs geworden ist. In der wahrscheinlich bekanntesten Szene des Films, dem Verhör von Sharon Stone, wird die Figur der aggressiven, verführerischen Verdächtigen auf die Spitze getrieben und zugleich die Erwartungshaltung des Zuschauers ad absurdum geführt. Die Szene in dem Verhörraum wird vor allem als eine Inszenierung von Blickwechseln zwischen der Frau auf der einen, und den anwesenden männlichen Polizisten auf der anderen Seite aufgelöst. Ebenso wie das Machtgefüge auf der Ebene der Dialoge durch die aufreizenden Antworten destabilisiert wird, wird auch auf der Ebene der Blicke die Anordnung zunehmend ambivalent. Isoliert und vergleichsweise hell ausgeleuchtet ist die Figur Sharon Stones auf dem Stuhl den Blicken der männlichen Figuren wie auch des Zuschauers ausgesetzt. Mit dem Beinüberschlag, durch reaction shots als ein POV-shot der Polizisten ausgewiesen, wendet sich diese Exponiertheit gegen die Beobachter. Doch die temporäre Gleichsetzung von Zuschauerblick und der Perspektive der Figuren besitzt noch weiter reichende Implikationen: die Blicke der Polizisten doppeln die Erwartungshaltung der Zuschauer. Schlägt Sharon Stone ihre Beine übereinander, so muss sich der Zuschauer nicht nur wie in dem Brechtschen Verfremdungseffekt in Hanekes Film(en) FUNNY GAMES (1997, 2007) ertappt fühlen, der Effekt wird noch dadurch verstärkt dass er mehr zu sehen bekommt, als er erwarten kann.
Sex und Gewalt in Verbindung mit einem Spiel mit Zuschauererwartungen wird in STARSHIP TROOPERS (1997) zum Strukturprinzip. Übertreibung und Übererfüllung finden sich in der soap-artig trashigen Inszenierung des Beginns (Highschool Abschluss!), einer Art dystopischen 90210, später in dünn motivierten Gruppenduschszenen, bewusst überzogenem Heldenpathos und der ebenso bewusst exzessiven Gewaltdarstellung. Die zumeist völlig verkannte satirische Absicht des Films richtet sich gegen faschistoide Tendenzen sowohl des Kriegsfilms als auch der Science-Fiction, die mit der von moralischen Imperativen entbindenden Kategorie des völlig Anderen arbeiten. Dabei wird diese Aussage gerade durch die schiere Übertreibung und Offensichtlichkeit der Parallelen zu Uniformen und Propaganda des Dritten Reiches übersehen oder übergangen.
Die größte Provokation, wie auch das größte Scheitern stellt jedoch der berüchtigte Film SHOWGIRLS (1995) dar. Mit sieben goldenen Himbeeren bedacht, erscheint es vor allem bemerkenswert dass dieser Exploitation-film mit einem Budget von etwa 45 Millionen Dollar produziert werden konnte. Wiederum werden hier Zuschauererwartungen zugleich entlarvt und übererfüllt. Die Vergnügungsindustrie in Las Vegas, so die Prämisse des Films, basiert auf der Kommodifizierung von Sex und wird mit der Filmindustrie Hollywoods gleichgesetzt (Nicht umsonst endet der Film mit einem Blick auf ein Highwayschild, das die Kilometer bis nach L.A. angibt). Der Film wird mit seiner Übererfüllung des „Sex sells“-Prinzip zu einer einzigen Provokation der immer noch vorhandenen kodifizierten Moralvorstellungen des Hollywood-systems, nach der Nackt- und Sexszenen zwar gezeigt werden (müssen), die Bettlaken jedoch stets auf magische Weise schlimmeres verhindern. Die provokativ-trashigen Elemente sind hier neben dem exploitativen setting und den zahllosen Nacktszenen (laut imdb.com absolviert die Hauptdarstellerin etwa ein Sechstel des Films völlig unbekleidet) vor allem die mehr als dünne Handlung, ins völlig karikaturhaft überzogenen Dialoge und ein finaler Akt von Selbstjustiz der Russ Meyer stolz machen würde. Besonders deutlich wird Verhoevens Absicht in der zynischen Auflösung der konventionellen Backstory-wound: wiederholt die von Elizabeth Berkley gespielte junge Stripperin, die zum Showgirl wird, immer wieder „Ich bin keine Hure“, so offenbart der Film gegen Ende dass sie einen Aufstieg von einer Prostituierten zur Stripperin hinter sich hat. Trotz der Fixierung auf den weiblichen Unterleib, die man Verhoeven unterstellen muss, deckt der Film damit die soziale Fetischisierung der unschuldigen jungen Heldin, bzw. des unschuldigen, „gefallenen Mädchens“ auf.
Verhoevens Filme ziehen mitunter dunkle Konsequenzen nach sich, die der Regisseur konsequenter als die meisten anderen „Provokateure“ auf sich nimmt. Ist der Auftritt bei der Verleihung der goldenen Himbeere für den schlechtesten Film und den schlechtesten Regisseur noch ein harmloser Akt der Selbstironie, so hat SHOWGIRLS nicht nur die weitere Karriere von Elizabeth Berkley beendet, sondern auch die weitere Arbeit des Regisseurs selbst sicher nicht gerade erleichtert.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Mittwoch, 4. November 2009

Beobachtungen zu ASHES OF TIME - REDUX

(D.Schanz)

Ein Trauerspiel ist das hier in Mainz, wenn man ins Kino geht, sich gar einen modernen Klassiker ansehen möchte und ernüchternd feststellen muss, dass man selbst der einzige Gast der Abendvorstellung im größten Saal des Hauses ist. Nicht, dass es mich gestört hätte, anderthalb Stunden in einer Art Privatkino zu verbringen, jedoch blieb der fade Beigeschmack der Angst um das Fortbestehen solcher Filmereignisse. Denn so ganz selbstverständlich ist es ja nicht, dass in einer, was das Kulturangebot angeht, recht bemitleidenswerten Stadt wie Mainz die Redux Version von Wong Kar-Wais ASHES OF TIME gezeigt wird. Bei allein 150(!) Erstsemesterstudenten in der Mainzer Filmwissenschaft, wie ich neulich erfahren habe, ist es schon erstaunlich wie schwach die hiesige Kinokultur tatsächlich zu sein scheint. Ohne nun übertrieben kulturpessimistisch klingen zu wollen, stelle ich mir ernsthaft die Frage, was der gemeine Filmwissenschaftler eigentlich macht, wenn er offensichtlich nicht mehr ins Kino geht? Möglicherweise war ich aber auch einfach nur spät dran und die interessierten Massen sind in vorige Aufführungen des Films gerannt. ASHES OF TIME läuft jedenfalls nicht mehr in Mainz und das ist… nicht ganz so schlimm wie man hätte befürchten können.

Mit diesen aufgemotzten Neuauflagen von Filmen, die längst als Klassiker gelten, ist das ja immer so eine Sache. Die Grundidee des Director’s Cut, nach der die Kunst sich zu guter Letzt doch noch den Fesseln des Produktionsstudios entledigt, mag ja an sich eine recht noble sein, nur ergibt sich daraus bekanntermaßen nicht immer auch automatisch der bessere Film. Eine Daseinsberechtigung hat der Director’s Cut natürlich allemal, allein schon um die Regie-Elite vom Fußvolk zu trennen: Leone, Peckinpah, Cameron, Scott, oder Coppola – wer etwas auf sich hält in der Branche, muss mindestens einem seiner Meisterwerke einen neuen, persönlicheren Schliff verpasst haben. Der Director’s Cut, so könnte man sagen, ist der Ritterschlag für Regisseure. Klar, dass sich da ein Wong Kar-Wai nicht lumpen lässt.

Was spätestens seit 2046 nicht zu übersehen ist und mit der lachhaften Selbstkarikatur MY BLUEBERRY NIGHTS seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, ist die künstlerische Selbstgefälligkeit, die Wong an den Tag legt. Selten ein zeitgenössischer Filmemacher, der so sehr darauf bedacht scheint, seinen auteur-Status zu behaupten. Und ASHES OF TIME, dieses doch so wunderbare Kuriosum innerhalb seines Schaffens, allein schon was die Genre-Zugehörigkeit anbelangt, erhält nun in der Redux-Version die entsprechende Nachbehandlung gemäß der ästhetischen Markenzeichen seines Regisseurs. Die furiosen Kampfszenen etwa, die sich zum Teil in bewährter Manier des Wong’schen Frühwerks in abstrakte Bewegungsbilder auflösen, werden hier radikal verstümmelt oder fallen gleich ganz weg zugunsten eines noch stärkeren Fokus auf den kontemplativ-schwelgerischen Charakter des Films. Kann sich der „reifere“ Wong Kar-Wai etwa mit jener einfachen Form des Attraktionskinos nicht mehr identifizieren?

Das Erzähltempo habe er drosseln wollen, so ist zu lesen. Tatsächlich erinnert das Ergebnis eher an Spielbergs Entscheidung, in der Neufassung seines E.T. jegliche Waffen digital entfernen zu lassen. Mit der nachträglichen Digitalisierungswut eines Spielberg oder Lucas (welcher vor allem THX oder die erste STAR WARS-Trilogie zum Opfer gefallen sind) hat AOT – REDUX übrigens außerdem gemein, dass das in gewisser Hinsicht wunderschön verwaschene, monochrom gelbstichige Bild der Originalfassung durch digitale Farbekorrektur regelrecht „aufgepimpt“ wurde. Leider mit mäßigem Erfolg, denn die an Wongs Großstadtfilme erinnernden Neonfarbtöne, die hier vorzugsweise einigen starren und daher leicht zu manipulierenden Wüstentotalen verpasst wurden, beißen sich auffällig mit der noch immer eher geerdeten Farbgebung der dynamischeren Einstellungen, deren punktuelle Bildbearbeitung wesentlich aufwändiger gewesen sein dürfte. So verlockend die digitale Nachbearbeitung von abgenutztem Filmmaterial auch gewesen sein mag, als Zuschauer dankt man es Wong kaum, immer wieder ein einsam in der Wüste herumstehendes Kamel auf knallgelbem Sand, vor türkis-lilanem Himmel als farbegewaltigen, aber vollkommen sinnentleerten Platzhalter zwischen den Erzählsträngen serviert zu bekommen – um nur ein Beispiel zu nennen. Aber Hauptsache der Herr Regisseur bleibt sich in der Farbgestaltung werkübergreifend selbst treu, oder wird es wieder – wie man’s nimmt.

Durch die bereits erwähnte Reduktion der Wuxia-Elemente, was dem Melodram (das ASHES OF TIME schon immer am liebsten gewesen ist) spürbar mehr Platz einräumt, ergibt sich auf der Bildebene ein umso stärkerer Fokus auf das Gesicht als spektakuläres Objekt. Die Großaufnahme dominiert hier klar die Form des Films. Es scheint, als sei Wong überhaupt nicht daran interessiert, den Raum drum herum zu erzählen. Totalen fungieren hier vor allem als Platzhalter, um die narrativen Ellipsen zu überbrücken. Und wenn dann doch ab und zu mal der Ort und seine Raumdimensionen etabliert werden, dann wirkt das fast wie eine lästige Pflicht, von welcher der Film sich, noch bevor man sich als Zuschauer im Bild zurechtgefunden hat, immer etwas zu früh wieder befreit, indem er einmal mehr auf eines dieser vielen Gesichter schneidet, die der Film so bereitwillig ausstellt. In jenen Gesichtern sind dann auch die eigentlichen Geschichten des Films abzulesen, während der Plot, in kruder Verworrenheit sowie einer zeitgemäß postmodernen Dekonstruktionswut erlegen, zwar vorgibt, hoch komplex zu sein, im Grunde aber nicht weiter der Rede wert wäre, gäbe es nicht diese sinnliche Komponente der Großaufnahme. Die vielen Fassetten der Liebe, von denen Wong in ASHES OF TIME erzählt, finden ihre logische Entsprechung im fragmentarischen Erzählgestus, welcher einerseits durch die formale Bevorzugung der Großaufnahme gegenüber übersichtlicheren Totalen noch verstärkt wird, zugleich aber auch erst durch die Konstante der darin abgebildeten Gesichter zusammengehalten wird.

Und was für Gesichter das sind! Leslie Cheung, Brigitte Lin, Maggie Cheung, Jacky Cheung und gleich beide Tony Leungs – das Konzept des Starkinos ist ja nun sicher nicht unüblich im Hong Kong-Kino, aber solch eine Ansammlung von Renommee und Talent, von Popularität und Ausstrahlung bleibt selbst in Wong Kar-Wais eigenem Werk unübertroffen. Ganz dicht wagt sich Chris Doyles Kamera an diese Stars heran – selten hat man die Gelegenheit, ihren Gesichtern so nahe zu kommen wie hier. Gleiches gilt für die Zeit, die Wong einem lässt, sie zu studieren. Die Hautunebenheiten eines Jackie Cheungs nimmt man dabei ebenso unweigerlich wahr wie jede noch so subtil geäußerte Gefühlsregung der von Maggie Cheung gespielten Figur. Es ist ein höchst intimer Blick, zu dem Wong den Zuschauer auffordert, ihn regelrecht zwingt durch die schiere Präsenz dieser Großaufnahmen. So lang, so genau betrachtet man sonst wohl nur das Gesicht der Liebhaberin, oder das des eigenen Kindes. Damit schaffen Kameramann und Regisseur – Redux-Version hin oder her – eine Intimität mit sowohl den mysteriösen Filmfiguren, als auch mit den Stars, die sie verkörpern, die so wohl nur im Kino möglich ist. Das ist mir während der Vorführung dann doch irgendwann noch mal klar geworden, nachdem ich mich zuvor des öfteren insgeheim nach meiner alten, leiernden VHS-Kopie gesehnt habe.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Notizen zu RABID (1977)

(H. Carstensen)

Cronenbergs zweiter Langfilm jenseits der 80 Minuten–Grenze (STEREO: 65 min., CRIMES OF THE FUTURE: 70 min), ist ein Hybrid, der mit Vampir- und Zombie-Motiven spielt. Nach einem Motorrad-Crash wird die verletzte Rose in einer Schönheits-Farm einer experimentellen Hauttransplantation unterzogen. Super: völlig unplausibel erwacht sie aus dem Koma als blutdurstige Femme Fatale, ausgestattet mit einem phallischen Penetrations-Stachel unter der Achselhöhle (No kidding. Aber irgendwie muss der Kahn ja in See stechen).


Rose wird verkörpert von der Pornofilm-Ikone Marylin Chambers, die mit BEHIND THE GREEN DOOR 1972 ihr Sexfilm-Debüt gab und in den 1970er Jahren neben Linda Lovelace (DEEP THROAT) einer der Stars der Industrie war. In bester Exploitation-Manier wird Rose´ attraktiver Körper immer kurz vor ihren Angriffen nackt gezeigt, die Bedrohung sexuell aufgeladen. Ironischerweise bringt sie eines ihrer männlichen Opfer in einem Pornokino zur Strecke. Ihr Blutsauge-Stachel ist ambivalent konnotiert: der phallische Stachel fährt aus einer vaginalen Höhle im Oberarm hervor. Ihre Opfer verwandeln sich in kürzester Zeit in Zombies, die ihrerseits mit Schaum vor´m Mund Mitmenschen durch klassisches Zubeißen anstecken- daher der Titel. Die Nachrichten-Sequenzen zur Ausbreitung dieser „Seuche“ bilden eine deutliche Parallele zu George Romeros 1968 erschienenen NIGHT OF THE LIVING DEAD. Elliot Stein, Kritiker der VILLAGE VOICE, schrieb 2003, mit Romeros Erstling habe eine Austausch-Entwicklung eingesetzt. Der Vampir wurde im Horror-Genre durch den Zombie als zentraler Gegenstand der Geschichten ersetzt. In dieser Beziehung erweist sich Cronenberg mit RABID als Fan des Hybriden und Chronist dieses Übergangs.

Das Erzähltempo ist für heutige Sehgewohnheiten langsam, aber ein übersichtlicher Plot bewahrt den Film vor zu harten Längen. Der ökonomisch-solide Montage-Stil ist nicht eben experimentell, sorgt aber für Genre-typische Schock-Momente. Lustiger Aussetzer: Rose´ Angriff auf eine Mit-Patientin im Whirlpool der Klinik kommt rüber wie ein unentschlossener Editing-Cocktail aus einem Teil lesbische Verführungs-Szene á la EMANUELLE und sechs Teilen JAWS: nach halbherzig-doppeldeutigen Blicken, von denen die Szene mehr vertragen könnte, um die Stimmung aufzuladen, folgt abrupt auch schon der buchstäbliche Ransprung, der einen kurzen Kampf und das abschließende Blut-Bad einleitet. Bei so unvermitteltem und holprigem emotionalen Transfer stellt sich weder Rose´ suggestive Anziehungskraft, noch der dann beabsichtigte Gewalt-Schock ein. Es gibt ein paar dieser Momente im Film, in denen nicht auszumachen ist, wie ernst er sich nimmt. Oder ob das weniger eine Frage der Haltung denn der handwerklichen Fähigkeiten und des Budgets ist.

Die Motiv-Verquickung von Vampir- und Zombie-Filmen ist das Alleinstellungs—Merkmal von RABID. Die sexuell aufgeladene Bedrohung durch Rose (Penetrations-Stachel statt Biss) steht den von ihr kreierten Zombies gegenüber: hier intime Gefahr mit Gesicht und Identität, dort anonyme Massenbedrohung, Seuche, Epidemie. Das Vampir-Motiv verkörpert die Romantik des 18.ten und 19.ten Jahrhunderts, während sich in den Zombies die Angst der Massengesellschaft der Moderne materialisiert. Beides in einem Film zu vereinen, spricht retrospektiv vielleicht für Cronenbergs Gespür für den Zeitgeist, und zeugt von seinem Interesse an Mutationen. Hier: die Mutation der Angst. Wobei eigentlich nicht die Angst selbst mutiert, sondern die Art, wie sie sich artikuliert. Dafür hat Cronenberg ein Auge.

Generell fällt das frühe Vorhandensein einiger Cronenberg-Themen auf, die der Kanadier später vertieft. Anführen ließen sich hier die oben genannte Mutation, was implizit auch die Auseinandersetzung mit Technologie hindeutet, die in späteren Filmen stattfindet. In RABID wäre die neue Behandlungs-Technik mit „neutralisiertem Gewebe“ das Beispiel. Der Körperhorror, die physische Penetration des Körpers durch das Fremde, und dessen Eindringen in ihn, gehört dazu. Und eine ironisch-kritische Perspektive auf die nordamerikanische Gesellschaft. Rose infiziert sich in einer Beauty-Klinik, und in einer der lustigeren Sequenzen ist der misslungene Anmach-Versuch eines drittklassigen Pick-up-Artists´ der Auslöser dafür, dass Santa Claus von einem Cop auf Zombie-Jagd aus seinem Sessel geknallt wird.

Nach RABID könnte man meinen, die Inhalte seien viel stärker Motor des kreativen Schaffens Cronenbergs, als sein Interesse am Visuellen. Zu letzterem fällt lediglich auf, dass den Film eine gewisse Ökonomie und Effizienz kennzeichnet. Eher schnörkellos als Verspielt stehen die Ekel-Bilder des Körper-Horrors am stärksten hervor und bleiben im Gedächtnis.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Montag, 26. Oktober 2009

Der Interkulturelle Western

(T.Hwa)

Vom 20. bis 23.11.2009 findet in Mainz ein Symposium zu dem Thema "Der Western -Interkulturelle Perspektiven" statt...


...und schon bei dem detailversessenen Otto Preminger (RIVER OF NO RETURN, 1954) war der Westen interkulturell.

[...] vollständigen Artikel anzeigen

Dienstag, 20. Oktober 2009

Aus den DVD-Räumen Seouls (II)

(T.Hwa)

Nach Wrestlern, Gangstern und Köchen nun Teil zwei der kurzen Zusammenfassung zum koreanischen Genre-Kino

Lee Sang-Ki’s OPEN CITY (2008) hat nicht etwa mit Roberto Rossellinis Rom zu tun, sondern ist wie A BITTERSWEET LIFE ein Beispiel für die koreanische Spielart des harten Cop- und Gangsterfilms. Mischt der Film zunächst die eleganten Tricks von Taschendieben, die auch in Bressons PICKPOCKET oder Johnnie Tos SPARROW in Szene gesetzt werden, mit dem für das Genre unverzichtbaren Einsatz von Messern, Tritten und Baseballschlägern, so verlagert sich überraschenderweise der Schwerpunkt im Laufe des Films immer mehr hin zu einer melodramatischen Dreieckskonstellation. Ein Cop steht zwischen seiner Mutter, einer durch das Gefängnis geläuterten Taschendiebin und der verführerischen „bösen“ (potentiellen) Schwiegertochter, welche die Mutter zu einem fatalen letzten Coup anstiftet und zugleich selbst unter dem frühen Verlust der eigenen Mutter leidet. Mit der Überhöhung der Mutterrolle geht eine exploitative sexuelle Faszination für das „gefallene Mädchen“ einher, die den männlichen Protagonisten verführt und (man möchte sagen „dafür“) von einem rivalisierenden Gangster beinahe vergewaltigt wird. Die Konzentration auf das Mutter-Sohn Verhältnis scheint im Gegensatz zu dem auch im westlicheren Kino verbreiteteren Vater-Sohn Topos für einen höheren Grad an Emotionalisierung prädestiniert. Dass der Film am Ende hoch emotional und dramatisch die Mutter durch einen Akt der Selbstopferung rehabilitiert und die Verführerin bestraft entspricht der konservativen, patriarchalen Moralvorstellung, die sich in diesem Film unter der glatten, glänzenden Oberfläche der Faszination für das Verbrechen verbirgt.

THE SCAM (2009, R: Lee Ho-jae) aktualisiert die story von WALL STREET für die aktuelle Wirtschaftskrise. Ein junger Kleinanleger, der vom schnellen Reichtum träumt, profitiert beim zocken über Instantnudeln von einem Teilaspekt einer groß angelegten Aktienmanipulation und wird daraufhin von der Bande rekrutiert. Als er immer tiefer in die Manipulationen der Bande verstrickt wird und die Wohnung seiner Mutter verspielt steht er vor einem ähnlichen moralischen Dilemma wie Charlie Sheen in Oliver Stones Parabel auf den Turbokapitalismus der 80er. Konnotierte dieser Film die Skrupellosigkeit der Banker durch die aus dem Vietnamkrieg entlehnte Rhetorik der Figur Michael Douglas’ („Search and Destroy,“ etc.), so bedient sich der koreanische Film bei Elementen der schon erwähnten Gangsterfilme. So mutet der Gegenspieler des Helden wie eine karikaturistisch zugespitzte Version eines Filmgangsters an. Zunehmend frustriert von den Komplikationen seines neuen, profitableren Erwerbszweigs besinnt sich der Patriarch einer Gangsterbande immer mehr auf seine alten Methoden. Thematisiert der Film die Moralität und den freien Willen korrumpierende Wirkung von Geld vor allem etwa in einer Szene, in der eine junge Hostess durch die Aussicht auf ein hohes Trinkgeld dazu gebracht wird, einen Eiskübel voller Spirituosen auszutrinken, so affirmiert der Film am Ende doch eine grundsätzlich materialistische Prämisse indem er seinen Protagonisten mit einem Job in der Finanzbranche und neuem Auto ausgestattet in die Welt entlässt. Alle moralischen Bedenken scheinen letztlich nicht die Faszination gegenüber den Möglichkeiten der sich seit den 80ern herausbildenden Wohlstandsgesellschaft aufwiegen zu können.

Ebenfalls in dem white-collar Milieu einer hoch entwickelten ökonomischen Ordnung spielt die romantische Komödie SEDUCING MR. PERFECT (2006, R: Kim Sang-Woo). Wäre der Film (oder das Subgenre) zu Selbstironisierung in der Lage, könnte der Film den Untertitel „Liebe in Zeiten der Büroarbeit“ erhalten. Eine brave Büroangestellte trifft auf ihren neuen Chef, den in jeder Hinsicht unnahbaren Mr. Perfect aus dem englischen Titel. Im Laufe der Handlung muss sie sich selbst treu bleiben während sich herausstellt, dass ihr Chef weniger zynisch und glatt ist als dies seine Frisur, seine Hemden und sein Snobismus zu Anfang vermuten lassen. Die Figur des männlichen love interests wird wenig überzeugend von dem halb-koreanischen, halb-britischen Schauspieler Daniel Henney gegeben. Da dieser zwar nach asiatischem Verständnis sehr gut aussieht, jedoch wohl extrem schlechtes koreanisch spricht, lässt der Film ihn zwar koreanisch verstehen, aber in amerikanischem Englisch antworten, was auf die starke koreanische Obsession mit „Americana“ und vor allem den sozialen Stellenwert amerikanischer Bildungsstätten hinweist. Dementsprechend äußert sich die Wandlung der Figur weniger über die schauspielerische Interaktion zwischen den Partnern oder über die Dialoge, als größten Teils durch gelöste Manschetten und Lockerung der Frisur. Offenbart der Film gegen Ende als eine Hauptmotivation des perfekten Mr. Henney, durch eine Übernahme den Namen der Firma wiederherzustellen, in der sein Vater sein ganzes Leben lang treu in der Maschinenhalle stand, so zeigt sich darin der Wunsch nach einem kuscheligen Kapitalismus, in dem nicht nur Platz für Romanzen, sondern auch für die Emotionalität und hierarchische Ordnung der Familie ist.

Ein älterer Mann betritt mit einer Sporttasche eine belebte Fußgängerzone. In einer Gasse legt er abgetragene Sportkleidung an. Er folgt idiosynkratischen Ritualen eines Sportlers: bandagiert seine Hände, trinkt einen Beutel Milch, präpariert sein Gesicht mit Vaseline, legt einen Kopfschutz an. Er kündigt sich den Passanten als ein ehemaliger Silbermedaillengewinner der Asia-Games an und bietet ihnen an, für einige Won ihren Stress und ihre Aggressionen an einem menschlichen Sandsack auszulassen. Sein Angebot richtet sich an alltägliche Sorgen und Bedürfnisse: unter der Wirtschaftslage leidende Geschäftsleute, enttäuschte und betrogene Liebende, aggressive Halbstarke. Er muss nicht lange auf Interessenten warten.
Dies ist der Beginn von CRYING FIST (2005, R: Ryoo Seung-Wan), einer Mischung aus Sportfilm und Soziodram, die in zwei konvergierenden Erzählsträngen die beiden dominanten Handlungsmuster des Sportfilms miteinander verbindet. Auf der einen Seite steht die Figur des stellenweise an Toshiro Mifune erinnernden Choi Min-Siks, ein alt gewordener Amateurboxer, der alles verloren hat und sich durch ein letztes Comeback die Anerkennung seiner Familie und seiner selbst zurückgewinnen will. Auf der anderen ein junger Mann, der in der Jugendstrafanstalt boxen lernt und für den der Sport eine Möglichkeit der Läuterung darstellt. Wie in vielen anderen Filmen auch dient der Topos Familie hier als Grundthema, das die beiden Handlungsstränge miteinander verbindet. In der Thematisierung von existentiellen Sorgen von Verlierern der modernen koreanischen Gesellschaft zeigt der Film Ansätze zu einem sozialem Realismus, die in einem interessanten Gegensatz zu den überhöhten, idealisierten Konflikten anderer Sportfilme steht. Die Boxsequenzen selbst sind andererseits durch eindrucksvolle Kamerafahrten eingefangen, die, anders als etwa in RAGING BULL, dessen Qualitäten in anderen Bereichen liegen, dem Sport tatsächlich gerecht werden. In seiner dramaturgischen Anlage nutzt der Film geschickt die Tatsache, dass der Sportfilm wohl eines der am meisten von Konventionen geprägten Genres ist, in dem z.B. der Zwang zu einem Spiel mit Erwartungen und dramaturgischen Standards weitestgehend ausgesetzt zu sein scheint. Beide Erzählstränge entsprechen konventionellen Mustern, der Zuschauer ist jedoch gezwungen Empathie und Identifikationspotential zwischen den beiden Protagonisten aufzuteilen. Treffen am Ende die beiden Underdogs im Ring aufeinander, so ist klar dass es ein bedingungsloses Happy End nur für einen der beiden geben kann.

Nach dieser kurzen Vorstellung der Filme nun noch einmal zu zwei der eingangs genannten Tendenzen:
Gewalt spielt als Motiv unter verschiedenen Aspekten eine Rolle. Dient sie gerade in den Cop- und Gangsterfilmen eher konventionell als Ausdruck von Macht, Überlegenheit und Unterwerfung, so stellt sie gleichzeitig auch eine Möglichkeit authentischen, kathartischen emotionalen Ausdrucks dar. Die gewaltigen Emotionen im Inneren der (meist männlichen) Protagonisten lassen sich nur bedingt durch Tränen allein entäußern. Gewalt als eine essentialistische Kommunikation innerer Zustände ist aufs engste verknüpft mit einer masochistischen Tendenz, die sich auf die intensive Rezeption christlichen Glaubens zurückführen lassen könnte. Besonders in CRYING FIST, A BITTERSWEET LIFE, OPEN CITY und THE FOUL KING steht vor allem das heroische Leiden im Mittelpunkt. Die Mutter aus dem Taschendieb-drama unterstreicht ihren Entschluss nie wieder kriminell zu werden damit, dass sie statt der Taschen ihrer Opfer ihren eigenen Mund mit einer Rasierklinge aufschneidet. Ein Schuldner zeigt in CRYING FIST seine Entschlossenheit zu seiner Schuld zu stehen dadurch, dass er die abgeclipsten Fingernägel eines Gangsterbosses schluckt.
Zuletzt identifizieren einige Werke Gewalt und Aggressivität auch als primäre Grundhaltung der modernen koreanischen Gesellschaft. Ob die unkonventionelle Geschäftsidee des alternden Boxers aus CRYING FIST (ein sarkastische Karikatur der modernen Dienstleistungsgesellschaft), der körperlich übergriffige Vorgesetzte aus THE FOUL KING, oder die Gangster-turned-Investmentbanker aus THE SCAM, die Motive betonen die unmittelbare Nähe zwischen einer radikalen Wettbewerbsgesellschaft und einer sozialdarwinistischen Ordnung des Stärkeren. Lässt der Regisseur des im Vorfeld der WM 2002 entstandenen FOUL KING eine Straßenschlägerei vor einem Wandfresko stattfinden, dass einen koreanischen Fußballspieler über einem leblos wirkenden Gegenspieler stehend zeigt und mit dem martialischen Slogan „Korea Fighting!“ überschrieben ist, so spielt er auf einen Zusammenhang zwischen der Obsession mit Gewalt und einem kollektiven Kompensationsbedürfnis angesichts der leidvollen Geschichte der koreanischen Halbinsel an.

Das Pathetisch-Melodramatische von Konflikten ergibt sich häufig aus der Betonung des Elements der Pflicht und weniger aus dem klassischen Konflikt zwischen äußeren Zwängen und innerer Neigung. Gerade in den Beziehungen zwischen den Generationen werden Konflikte häufig aus der Verletzung wechselseitiger sozialer Obligationen entwickelt. In OPEN CITY ist dies die Vernachlässigung der Mutterrolle, in FOUL KING und CRYING FIST das Versagen als Sohn beziehungsweise als Vater, das (über physisches Erleiden) kompensiert werden muss. In A BITTERSWEET LIFE ist es die exzessive Bestrafung des jüngeren Protégés durch den Älteren, welche das hierarchische Gefüge destabilisiert und die Anarchie des Rachefeldzuges in Gang bringt; und nicht nur die jungen Köche aus LE GRAND CHEF erben sowohl Konflikte als auch Verpflichtungen von ihren Großvätern. Besonders übersteigert erscheint die pathoslastige Darstellung von familiären Beziehungen in der an sich leichten Koch-komödie. Erscheint dort anfangs die Idee, das Verfahren für die Herstellung der perfekten Grillkohle bei einem verurteilten Mörder im Gefängnis suchen zu müssen, als ein origineller, absurd-komischer Einfall, so widmet der Film dem Nebenplot eine lange Rückblende, die in einem völlig anderen Ton von dem Schicksal des von der Mutter aus finanziellen Gründen verlassenen Sohnes handelt, für den von der Mutter zubereitete Süßkartoffeln zur höchsten Genuss werden und der schließlich im Affekt einen Mord begeht.
Ist die Destabilisierung familiärer Strukturen ein Auslöser dramatischer Konflikte, so enden die meisten Konflikte auch in einer Re-Etablierung der (symbolischen) Familiengemeinschaft, etwa in Form einer Aussöhnung zwischen den Generationen, oder wie in PRIVATE EYE in einer neuen Behelfs-familie. Auch hier kann noch einmal die Sonderstellung von FOUL KING betont werden, der durch seine offenen Enden Konflikte nicht explizit auflöst und der seinem Protagonisten echten Fortschritt und Erfolg verweigert.
Dennoch, betrachtet man die Kontraste in den internationalen Verleihtiteln A BITTERSWEET LIFE und CRYING FIST als Beschreibung der Heterogenität von grausam-gewalttätigen und pathetisch-emotionalen Elementen, so neigen viele koreanische Filme dazu, am Ende das Saccharine über das Bittere zu stellen, oder zumindest das Süße im Schmerzhaften zu betonen.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Sonntag, 18. Oktober 2009

Aus den DVD-Räumen Seouls (I)

(T.Hwa)

Eine meines Wissens nach spezifisch koreanische Form der Rezeption von Filmen stellen die so genannten DVD-Räume dar, Videotheken mit angeschlossenen privaten Heimkino-Räumen, die mit einem Sofa, Beamer oder Flachbildschirm und Surroundanlage ausgestattet sind. In einem Land in dem es üblich ist, dass junge Leute bis zu ihrem ersten Job im Elternhaus wohnen, soll dieses semi-private Leihwohnzimmer vor allem bei jungen Paaren beliebt sein. Jedenfalls findet man in manchen Räumen auch eine Box Taschentücher. Für den Fall dass der Film zu traurig ist, oder so.
Aus diesem soziokulturell geprägten Umfeld heraus folgt der erste Teil einer kurzen zusammenfassenden Beschreibung und Kritik der gesehenen Filme, die sich mit Tendenzen und Motiven im sozialen und kulturellen Kontext auseinandersetzen will.


Ein großer Teil des aktuelleren koreanischen Kinos ist von drei zunächst gegenläufig erscheinenden Tendenzen bestimmt. Zum einen einer teilweise bis ins Sadistische gehenden Faszination für exzessive, zum Teil willkürliche, körperliche wie psychische Gewalt, zum anderen einem Hang zu exzessiver Emotionalität, Pathos und Melodrama. Zuletzt lässt sich noch eine Neigung zu einem dunklen, zum Teil bis ins Groteske makabren Humor beobachten, der häufig in einem morbiden Verhältnis zu der gezeigten Gewalt steht.

In keinem anderen Film ist die teilweise unbequeme Verbindung von Gewalt und absurdem Humor deutlicher und reflektierter als in Kim Ji-Woons intelligenter, tragischer Slapstickkomödie THE FOUL KING (2000). Der aus Park Chan-Wooks SYMPATHY FOR MR. VENGENCE oder auch aus Kims THE GOOD, THE BAD, THE WEIRD bekannte Song Kang-Ho verkörpert darin einen kleinen Büroangestellten im Sinne Kafkas, der sich morgens an anderen rücksichtslosen Fahrgästen vorbei in eine überfüllte U-Bahn kämpfen muss um dann am Arbeitsplatz wegen seiner mangelnden Vertragsabschlüsse beschimpft zu werden. Auf dem Heimweg wird er von Jugendlichen Schlägern verprügelt, zuhause den Erwartungen seines Vaters mehr als nicht gerecht. Selbst in seinen Träumen wird er verprügelt. Als Möglichkeit des Widerstands gegen seinen sozialdarwinistisch gesinnten Chef, der regelmäßig seine Überlegenheit durch einen (unmetaphorischen) headlock beweist erscheint dem Underdog eine Karriere als professioneller Wrestler. Aus dem milden, nerdigen, sozial unsicheren Angestellten wird also der koboldhaft kichernde Foul King, ein Bösewicht des Wrestling, der seine Gegner auch mal mit einer Gabel traktiert. Die satirische Absicht der Komödie, die (im besten Sinne) niedrigsten slapstick (vertauschte Trickgabel), Situationskomik und absurde Momente kombiniert, richtet sich gegen die latente Aggressivität der koreanischen Gesellschaft, der die sich zwischen Inszenierung und Realität bewegende Fetischisierung von Gewalt im Wrestling entgegengestellt wird. Dabei stellt das Wrestling erfreulicherweise – und entgegen den Konventionen des Sportfilms – nicht die Lösung der professionellen, romantischen oder familiären Probleme des Protagonsiten dar. Es bietet dem ewigen Prügelknaben lediglich eine Möglichkeit seine latente Agressivität zeitweise in konkrete Umwandeln zu können. Verliert am Ende die Kamera den Protagonisten in einem dicht bevölkerten Stadtpanorama aus den Augen, so wird betont dass die Hinwendung zum Pro-Wrestling nicht so bizarr sein könnte, wie die Idee auf den ersten Blick wirkt.

Zunächst simpler, jedoch untergründig fast ebenso ambivalent behandelt ein anderer Film Kims das Thema Gewalt. Der Protagonist aus A BITTERSWEET LIFE (2005) ist der Protégé eines Gangsterbosses, dem er uneingeschränkte, quasi-familiäre Loyalität entgegenbringt. Dies verhindert jedoch nicht dass er zu einem der prototypischen leidenden männlichen Helden des koreanischen Kinos wird. Sich der Unterstützung seines Patriarchen sicher, zieht er sich den Unmut konkurrierender „Familien“ zu. Als er den Auftrag bekommt, die junge Freundin des Bosses zu beobachten, deren Seitensprung aber aus denkbar minimalistisch angedeuteten Zuneigung heraus aber nicht sofort verrät, wird er fallengelassen und zunächst von der fremden, dann der eigenen Bande gefoltert sowie (zweimal) lebendig begraben. Wie die „doppelte“ Hinrichtung andeutet verwendet der Film viel sadistische Energie auf die Etablierung der Ungerechtigkeit, die den Anlass zu dem jakobinischen Rachefeldzug des jungen Mannes gibt. Stirbt der Held an dessen Ende nach einem physischen Martyrium, so springt ein flash-back wieder in eine Situation zu Anfang des Films zurück. In der eleganten Umgebung eines Luxushotels steht der Protagonist, wieder ganz der smoothe, in einen schwarzen Anzug gekleidete Gangster, vor seiner Reflexion in einer Glasfassade. Nachdem er narzisstisch sein Outfit überprüft hat, beginnt er mit immer größer werdender Freude ein Schattenboxen vor dem Spiegel. Erinnert diese Szene an das Ende von RAGING BULL, so dürfte sie nicht nur deshalb eine Erklärung für die Nominierung des Films für das Festival in Cannes sein. Auch wenn der Regisseur in einem Interview wohl erwähnt hat, dass die Szene lediglich dazu diene, den tragischen Fall der Figur zu betonen, so erhält der Film durch sie auch eine reflexive Qualität. Ebenso wie der Gangsterboss auf die erste Gelegenheit wartet um gegenüber seinem sonst stets tadellosen Untergebenen seinen völligen Machtanspruch zu demonstrieren, so lässt sich die Rückblende als ein Hinweis auf die Sehnsucht des Protagonisten nach einem Vorwand verstehen, gewaltsam aus allen Ordnungen auszubrechen. Der Leidensweg der Figur repräsentiert damit neben dem konventionellen doppelten Akt der Rache und Buße auch einen Ausdruck der sadistisch-masochistischen Freude an Gewalt als Form männlicher Hybris. Indem der Film so die selbstzweckhafte Zwangsläufigkeit der tragischen Entwicklung betont hinterfragt er alle konventionalisierten Konzeptionen von Ehre und Hierarchie, um die es zunächst vordergründig geht.

Das murder mystery PARADISE MURDERED (1986, R: Kim Han-Min) spielt auf einer abgelegenen Insel vor der Küste und arbeitet geschickt mit den Konventionen und Erwartungen, die mit der Prämisse des Gegensatzes von Stadt und Land verbunden sind. Erinnert die absurde Darstellung von Provinzialität (inklusive der stock-characters eines pikaresken Dorfdepps und städtischer Entwicklungshilfe in Gestalt eines Arztes und einer Lehrerin) zunächst an MEMORIES OF MURDER, so nutzt der Film später die sonst unhinterfragten Implikationen des settings aus. Der zentrale, durchaus gelungene plot twist des Films entwickelt sich aus der Frage, was einen jungen, talentierten Doktor aus der Hauptstadt auf eine so isolierte Fischerinsel verschlägt und warum die dort lebenden Hinterwäldler so verdammt exzentrisch sind.

Wohl von Stephen Chows „moleitau“ (in etwa „Nonsense“) Komödie GOD OF COOKERY inspiriert handelt LE GRAND CHEF (2007, R: Jeon Yun-Su) von einem Kochwettbwerb in dem es um mehr als nur Sterne geht. Nachdem die entscheidende Verkostung in einem Duell um den Posten des Meisters einer prestige- wie traditionsreichen Kochschule in einer Vergiftung durch Kugelfisch endet, zieht sich der talentierte Koch Sung-Chan auf das Land zurück, wo er davon lebt Lebensmittel an alte Damen zu verkaufen, die ebenso sehr an ihm wie an seinen organischen Auberginen interessiert sind. Er kehrt aus diesem Exil zurück um an dem Wettbewerb um das Messer, mit dem sich der letzte Hofkoch einst die Hand abtrennte um nicht für die japanischen Besatzer kochen zu müssen, teilzunehmen und seine sowie auch die Ehre seines Großvaters wiederherzustellen. Dabei muss er nicht nur mehrere Gerichte mit jeweils verschiedenen Zutaten kreieren (was an die japanische Kochsendung THE IRON CHEF erinnert), sondern auch sein Trauma sowie den unsympathischen Konkurrenten überwinden, der einst sein Fischgericht sabotierte. Wo Stephen Chow das in ganz Asien besonders wichtige Thema Essen mit anarchischem kantonesischen Humor behandelte – etwa mit Fleischbällchen die so knackig sind, dass man mit ihnen Pingpong spielen kann – ist der Witz hier zum Teil auch ein Ergebnis (gewollt und ungewollt) maßlos pathetischer Übertreibung. Geht es in dem alles entscheidenden Duell am Ende um die Suppe, die einem König Tränen der Rührung entlockte, so soll etwa die Schärfe die Vitalität, das Fleisch des geduldigen Rindes das geduldige Beharren und die demokratische Gesinnung (?!) des koreanischen Volkes verkörpern. In der pathetischen Überhöhung des alltäglichen Themas liegen Komik und Ernst nah beieinander.

PRIVATE EYE beginnt als eine leichte Komödie im Stile eines sunshine-Neo-Noirs. Die titelgebende Figur spioniert in einem Korea Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts untreuen Ehefrauen hinterher um genug Geld für ein Ticket nach Kalifornien zusammen zu bekommen. Die Handlung kommt in Gang als ein junger Medizinstudent, der eine gefundene Leiche zu Studienzwecken benutzt hat, wegen der Prominenz des Opfers in Panik gerät. Die beiden müssen den Fall aufklären bevor der Verdacht der inkompetenten und korrupten Polizei auf den recht naiven jungen Mann fallen kann. Mit Polanskis CHINATOWN teilt der Film neben der sonnigen Lichtstimmung auch eine Wendung hin zu dunklen sexuellen Geheimnissen, die mit dem Look und unbescherten Ton des Anfangs brechen. Sehr viel überraschender als die Entwicklung des recht berechenbaren plots– wieso trägt der Bruder einer der Figuren wohl eine Maske? – erscheint die unvermittelte Härte, mit der die Verbrecher und deren Hintermänner in der japanischen Kolonialverwaltung gerichtet werden.
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Samstag, 10. Oktober 2009

Notizen zu STRAW DOGS (1971)

(H. Carstensen)

Stimmt. Unter anderem demonstriert Sam Peckinpahs erstes Feature außerhalb des Western-Genres „die Mechanismen der Gewalt“, wie auf dem DVD-Cover steht. Präziser jedoch seziert der Film die männliche Psyche und allgemeiner: die menschliche Natur.

Die Inszenierung ist sorgfältig und überlegt wie ihr Protagonist, Mathematiker David Sumner (Dustin Hoffmann), den es mit seiner attraktiven Frau Amy in die Englische Provinz verschlägt, um ungestört an seinen Formeln zu arbeiten. Wie sich schnell heraus stellt: ein ungastlicher Ort voller xenophober Hinterwäldler, die wenig übrig haben für Brillenträger, Beatniks, Miniröcke und Nippel unterm Pulli (dieses das Ensemble der Zeichen der Moderne in der Exposition, die das junge Paar zu Dissidenten im durch vormoderne Strukturen beherrschten Dorf machen; ach ja: Behinderte aka Schwache sind hier auch nicht erwünscht).

Früh und zügig etabliert Peckinpah die Spielfiguren und –Steine auf dem Brett, hängt Tschechows Pistolen in Form einer Bärenfalle an der Wand auf, und man weiß: sie wird losgehen. Bleibt genügend Zeit, aus dem harmonischen ein zankendes Paar, aus dem intakten ein gekränktes männliches Ego und –vorläufiger Höhepunkt der langsam, stetig und unaufhaltsam voran schreitenden Eskalation- aus der lebenslustigen Amy das verstörte Opfer einer (zweifachen) Vergewaltigung zu machen. Am folgenden dörflichen „Gesellschaftsabend“ quälen Amy angesichts ihrer Peiniger, die dämlich saufend im selben Saal sitzen, üble Flashbacks der Tat. In genialer Kollisions-Montage bettet Peckinpah die Scham- und Gewalt-Blitze in dadurch schmerzhaft-harmlose Bild-Strecken spielender Kinder, oder grotesk wirkende, extreme Untersichten des Dorf-Pfarrers, der banale Zaubertricks vorführt. Peckinpah kontrastiert Amy´s Schmerz mit der Ahnungslosigkeit ihrer Umgebung, eingeschlossen die ihres Ehemannes David, erhöht so die Wirkung seiner Bilder. Die surrealistischen Ornamente, mit denen der Western-Routinier die Gang der Gewalttäter im Film konnotiert, weisen zarte inszenatorische Parallelen zu den Pop-Art gesättigten Halbstarken Droogs aus A CLOCKWORK ORANGE auf, der ebenfalls aus dem Jahr 1971 stammt. Beide Filme behandeln als zentrale Elemente sexualisierte Gewalt, gewalttätige Angriffe auf das und im unantastbaren Heim, und kommen jeder auf seine Art zu dem Schluss: gewalttätiges Verhalten ist unheilbar, seine Mechanismen scheinen zu tief in die menschliche Natur eingeschrieben. Während der Kubrick-Film (der Vorlage entsprechend) auf die ebenso ins Menschliche eingeschriebene Notwendigkeit des wählen-müssens abhebt, entwirft Peckinpah ein dem Western entlehntes ALAMO-Belagerungs-Szenario. Er zielt darauf ab, dem Bücherwurm David keine Wahl zu lassen: „This is where I live. This is me. I will not allow violence against this house.“ In die Ecke gedrängt hängt er den dünnen Mantel der Zivilisation an den Nagel und setzt schon mal Wasser auf, um den Angreifern später damit die Gesichter zu verbrühen.

„Bloody Sam“ lässt eher wenig Blut fließen. STRAW DOGS geht nicht exploitativ mit seinem Thema um. Aber Peckinpah inszeniert den dritten Akt als eine kathartische Selbstermächtigung des zuvor mehrmals gedemütigten und entmännlichten Intellektuellen David. David, so der Film, stellt sich seiner Angst und nimmt den Kampf auf Leben und Tod an. Geek-Empowerment, avant le lettre. Widersprüchlich bleibt die Kluft zwischen psychologisch genauer Zeichnung einer Eskalation in den ersten zwei Akten (Extern: Ausgrenzung, Spott, Drohung, Demütigung, Vergewaltigung; Pärchen- intern: Verunsicherung, Verletzung, Verrat), in die der Film viel Zeit investiert, und dem seltsam sorglosen Umgang im Finale mit den immerhin fünf Toten („Jesus…I killed them all.“). Schwachpunkt, oder lakonischer Umgang mit dem zum Ausbruch gekommenen Archaischen in uns allen…? A nice Question to dwell upon…

2011 soll ein Remake in die Kinos kommen, dass gerade gefilmt wird. Dustin Hoffmanns Part übernimmt James Marsden alias Cyclops aus X-MEN. Die neue Figur ist Hollywood-Drehbuchautor, und nicht mehr Mathe-Stipendiat. Die Handlung wurde in den Süden der USA verlegt. Bleibt abzuwarten, ob dem Klassiker eine neue, radikalere Lesart abgewonnen werden kann. Oder ob es schon jetzt ein heißer Kandidat für den schwachsinnigsten Film der neuen Dekade ist. Mmmh -what a nice Question to dwell upon…
[...] vollständigen Artikel anzeigen

Dienstag, 29. September 2009

ANTICHRIST (2009) - Ein Triptychon

(H. Carstensen)

(Dem Leser: der nachfolgende Text enthält profane Sprache, Nacktheit, und Spoiler.)

Vorhang auf: linker Flügel

***

PROLOG: Der bewegte Mann.


Lars von Trier ist sehr, sehr krank. Aus eigener Kraft kann er keinen guten Film machen.
David und die Blair Witch kommen ihn besuchen, in seiner abgelegenen Waldhütte, die Gegend ist EVIL DEAD. Trotz des Sturms, der aufzieht, und später über die Region fegen soll, schmollt Von Trier statt sich zu freuen, will keinen Besuch. Schon gar nicht von der Blair Witch: Frauen sind ihm eine Tortur. Er dreht sich weg und schläft, um sein inneres Kind zu finden. Sein Traum führt ihn auf einen Parkplatz, seltsam vertraut. Er weiß nicht wo er ist. Der Besuch geht wieder, aber jeder lässt etwas für Von Trier da, damit er gesund wird: David lässt sein Reh da, eine Tube „Droning Sounds“ Angst-Creme, und eine handvoll Gras aus BLUE VELVET. Wenn man das Gras unter eine Makro-Linse legt, sieht man, wie da wer-weiß-was passiert. Die Blair Witch lässt ihre alte Handkamera da, ist eh voll verwackelt das Ding. Und ein mythisches Hexen-Buch mit Schauermärchen und Bildern. Vielleicht findet Von Trier darin ja Inspiration. Sie sind weg als Von Trier aufwacht- aus einem Alptraum. Sein inneres Kind fällt aus dem Fenster. Von Trier ist verwirrt: hat er das vielleicht mit Absicht geträumt? Wollte er, dass…? Angespannt sieht er auf die Tube „Droning Sounds“, die David auf die braune Aksel Kjersgaard Teak Bank neben der Tür gelegt hat. Er drückt eine linsengroße Menge raus und schmiert sie unter die Ränder des Alptraums. Hmm, „schon besser“, denkt Von Trier, und tatsächlich: der Effekt ist gut. Auch am Nachmittag fühlt er sich besser. Dann aber nicht mehr. Und dann fühlt er gar nichts mehr. Er weiß nicht, was er fühlen soll. Er stellt sich vor den Spiegel und vergleicht sich mit Strindberg in dessen Inferno-Krise. Er sieht in den Spiegel. „Steht mir gut“ denkt Von Trier. Er malt ein bisschen. Er ritzt sich etwas drastisch, um überhaupt was zu fühlen. Von Trier geht’s nicht gut. Mit dem Blut malt er wieder weiter. „Kapiteltitel“, murmelt Von Trier, als er auf das Gemalte blickt: Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Die drei Bettler, Epilog. Nicht schlecht. Er ruft einen Journalisten an und erzählt ihm von der Strindberg-Sache. Der Journalist sagt: „Grüerzi“, und dass es ihm sehr gefällt. Davids Reh kackt auf den Teppich. „Scheiß-Reh!“ Von Trier schreit schrill. Das Reh steht still. Guckt. Spitzt die Ohren. Scheiß Natur. Kack-Bedrohung. Draußen wie Drinnen, denkt Von Trier. „Mmh, nicht schlecht.“ Zufrieden isst er etwas, und zieht sich vorm zu Bett gehen noch zwei Filme rein: IDENTIFICATION OF A WOMAN von Antonioni. Und SAW IV, weil´s von Tarkovsky nichts gab. Um 12 Uhr Nachts macht er das Licht aus. Das gute Essen liegt ihm schwer im Magen, und er träumt wieder schlecht. In seinem Kopf geht alles durcheinander: der triste Antonioni, SAW, die Droning-Sounds vom David, die Kamera von der Blair Witch, David´s Reh läuft durchs Bild, die Bilder von der Hexen-Verbrennung aus dem Buch von der Blair Witch, und dann fällt auch noch sein inneres Kind aus dem Fenster, schon wieder, und genau dahin, wo das Reh hingekackt hat. Als er aufwacht ertappt er sich mit der Hand am Pimmel. Scheiß Natur! Scheiß Erbsünde! Von Trier hat Schmerzen. Wozu soll das alles gut sein? „Ich schreibs einfach auf“, denkt Von Trier, „sollen sich doch die Anderen einen Reim drauf machen.“ Er ruft seinen Therapeuten an. Aber der redet nur Mist. „Freud ist tot, “ und „konfrontiere Dich mit Deiner Angst, Von Trier. Du musst dahin gehen, wo Du am meisten Angst empfindest.“ „Cannes?“, murmelt Von Trier zu sich selbst, und grinst. Sein Therapeut sieht mit einem Auge die „Tagesschau in 100 Sekunden“. „Wovor hast Du am meisten Angst Von Trier?“ Von Trier überlegt. „Überlege nicht zu lange, Von Trier!“, sagt der Therapeut am anderen Ende der Leitung. „Ds mch knr lb ht.“ Die Leitung knistert. Vielleicht der Sturm. Die Botschaft kommt nur verstümmelt. Egal. „Konfrontiere Dich! Fordere Ablehnung heraus! Und dann sieh was passiert.“ Von Trier hat schon vor Stunden aufgelegt. Der Therapeut hat ihm noch weitere Tipps gegeben. Abgehackte. Von Trier hat alles aufgeschrieben in dem gelben Notiz-Block, und neben dem Telefon auf dem Panton Eames –Hocker abgelegt. Er denkt wieder an seinen Traum. „Träume haben in der modernen Psychologie keine Bedeutung“ hat sein Therapeut gesagt. Man muss auch nicht immer alles mit Bedeutung füllen, denkt Von Trier. „Wenigstens waren ein paar gute Bilder dabei.“ Das Telefon klingelt. Es ist David. „Hallo David.“ Er will sein Reh zurück. Von Trier denkt an den letzten Oktober, in Kopenhagen: als er auf dem Behindertenparkplatz geparkt hat, in der OehlschlÆgers Gade. Der Parkplatz- es geht ihm nicht gut. David erzählt von seinem Reh. Es hat ihm die Idee mit der „Kirche der Unbesiegbarkeit“ zugeflüstert. Von Trier hört nicht. Er macht seine Hose auf. Langsam gleitet sie auf seine Knöchel. Die Gürtelschnalle klimpert metallisch. Er hockt sich hin. „Die transzendentale Meditation ist wie eine reinigende Umarmung, die Du Dir selbst schenken kannst, Von Trier, “ sagt David. Von Trier steht wieder vor seinem Volvo auf dem Behindertenparkplatz. Es ist kalt. Er weint. Seine Träne ist ganz zäh. Am weiß-gerahmten Fenster im ersten Stock des roten Backsteinshauses hinter dem Volvo sitzt eine schwarze Katze und sieht ihn an. Von Trier kackt auf den weißen Flokati. „Von Trier?“ fragt David in den Hörer. Von Trier starrt auf seine Scheiße. Plötzlich, aus dem nichts, schämt er sich. Er schämt sich so sehr. Der Raum wird immer weiter. In Zeitlupe fällt der weiße Telefonhörer aus seiner zitternden Hand in den weißen Flokati-Teppich. Von Triers Finger gleiten auf das Stück Teppichboden unter ihm zu. Es ist 12 Uhr. Ein Luftstoß springt durch das Haus. Der Sturm ist da. Die Fenster in der Küche nebenan platzen auf. Von Trier sieht es nicht. Er hört es nur. Seine Hände sind manikürt. Doch er hat Dreck unter dem Fingernagel am rechten Zeigefinger. Sein ausgestreckter Zeigefinger gleitet spielerisch in die Fäkalien. David hat aufgelegt. Seine Zunge fühlt sich pelzig an. Er fragt sich, ob Käfer darauf herumlaufen könnten. In dem Raum neben der Küche nimmt sich Von Trier eine große Hand voll Scheiße und steckt sie sich in den Mund.


ENDE

***
Vorhang zu.
Kamera schwenkt gleitend rüber auf die Mitteltafel.
Vorhang auf:

***
KAPITEL 1, 2 und 3: DIE VERWEIGERUNG

***
Vorhang zu.
Kamera schwenkt gleitend rüber auf den rechten Flügel.
Vorhang auf:

***
EPILOG:
ES IST EGAL, ABER

Lars von Trier hat ein cleveres Stück Kino geschaffen – das nicht atmet und nicht lebt. Die inkohärente und krude Art, wie er dieses zweifelsohne geschickte Spiel frei flottierender Zeichen orchestriert, hindern einen daran, übermäßigen Beifall zu klatschen. Drastisches Überwältigungs-Kino, dass nichts will; bedeutungsschwangere Psycho-Dialoge (oft muss Willem Dafoe meta-monologisieren) verleiden einem alle Lust an den Splatter-Szenen, in denen der Film so gerne Ernst genommen werden möchte. Und genau hier liegt das Ärgernis. Schockiert, wie die kopfschüttelnd das Kino verlassende Zuschauerin in der Reihe vor mir, war ich nicht. Aber eben auch nicht verstört, gefesselt oder fasziniert.

Mit schon wenig Fantasie kann man das Gemetzel, dass da mit Eintritt in den finstren Wald –der klassische Märchen-Raum- seinen Verlauf nimmt, als Geschlechterkampf-Allegorie deuten (was die gezeigten Verstümmelungen zu metaphorischen macht), oder als Psychogramm eines modernen Mannes und seiner Überforderung. Oder als erbitterten Widerstreit zwischen zwei prinzipiell und auf Ewig unvereinbaren Prinzipien (SIE und ER in EDEN?). Bei dem ER, so scheint von Triers Sichtweise, gegenwärtig viel einstecken muss. Kann, muss aber nicht. Es ist ja alles nur ein Spiel. Dass die Wiederherstellung SEINER Männlichkeit ausgerechnet realisiert wird, indem ER SIE am Ende erwürgt- das ist halt ein mehrdeutiges Zeichen in diesem postmodernen filmischen Diskurs, dass man nicht gleich als misogyn abstempeln darf. Warum noch mal nicht? Wenig überzeugend auch die zaghaft eingestreuten Paranoia- und Psycho-Thriller –Elemente, die Kinds-Vernachlässigung und mütterliche Überforderung ins Pathologische deuten. Etwas stimmt mit IHR nicht. Aber es könnte genauso gut das zeitlose Böse sein… Was übrig bleibt ist SEIN Unbehagen an IHR. Diffus aber distinkt anti-weiblich. Ein Exploitation-Reißer, an dessen Ende die Psycho-Bitch stirbt? Super! Das Kunstkino zwischen Psycho-Gerede und Holzklotz-in-die-Genitalien macht dagegen den Eindruck, als sei im Regisseur von BRAKING THE WAVES der Schalter (Dimmer / Selecta…) für laut und leise kaputt gegangen.

Explizite Gewalt- oder Sexualitätsdarstellung provozieren nicht nur die Lust am Zuschauen, sondern können als „Script-Device“ philosophische oder ethische Diskurse auf den Boden holen und zuspitzen. David Cronenberg z.B. geht in seinen Filmen schon immer sehr direkt mit diesen Mitteln um. A HISTORY OF VIOLENCE (2005) nutzt sie in seiner Inszenierung des Motivs vom Mann, der von seiner Vergangenheit eingeholt wird, auf zwingende Weise: um mit den Dämonen fertig zu werden, die ihn umtreiben, muss sich die Figur Tom der alten Muster bedienen. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, und die Gewalt kontaminiert intime Strukturen, Familien- und Sexualleben. Cronenberg scheut sich nicht, die Konsequenzen von physischer Gewalt grafisch ins Bild zu setzen. Ohne Äpfel mit Birnen vergleichen zu wollen: er tut dies wohldosiert. Die intensiven Schockmomente schubsen andere inszenatorische Mittel nicht von der Bühne. Dieses Feingefühl im Umgang mit den „großen Geschützen“ lässt ANTICHRIST vermissen. Während Cronenberg einmal von der amerikanischen Filmtheoretikerin Christine Elizabeth Ramsay als „Author of a thinking man´s existential splatter“ bezeichnet wurde, sucht man das Existentielle bei Lars von Trier diesmal vergeblich. Eventuell vorhandene Subtexte des postmodernen Geschlechterkampf-Märchens drängt er dem Zuschauer mit seiner visuellen Version des Nürnberger Trichters auf, dass die Freude an der inhaltlichen Auseinandersetzung das erste Gewaltopfer wird. Frei flottierende Zeichen sind gut und (in diesem Fall dank der Kamera-Arbeit von Anthony Dod Mantle) schön. Von Trier aber füllt Lücken im vieldeutigen Text einfach mit Drastik. Wo bleiben die Zuspitzungen, die die brutal-expliziten Verstümmelungs-Akte verstörend-faszinierend macht? Dieses „Unfall-auf-der-Autobahn“-Gefühl, dass Cronenberg so unnachahmlich herzustellen in der Lage ist („ich weiss, es ist abscheulich, aber ich muss hinsehen, und bin fasziniert.“) erzeugt ANTICHRIST zu keiner Zeit. Der Sog bleibt stecken zwischen den zermürbenden Psycho-Debatten des emotional versehrten Pärchens, und sprechenden Füchsen. Beim Enfant Terrible Von Trier ist der vordere Teil der Redensart aktuell dominant.

Manchmal erinnert ANTICHRIST an ein ähnliches (misslungenes) Spiel: Jennifer Lynch´s SURVEILLANCE (2008), der einem gleichfalls reichlich drastische Gewalt aufnötigt, ebenfalls ummantelt von einer dünnen Märchen-Story, einer postmodernen Gangster-Ballade. An beider Filme Ende steht die schmerzlich evidente Frage: wozu das Ganze, so? Wie Eingangs erwähnt, stört der feierliche Ernst der Inszenierung am stärksten. Tarantino zum Beispiel, kann man leicht verteidigen, wenn der wegen seiner gewalttätigen Auswüchse als schlechter Filmemacher gescholten wird. Kritiker bemühen gern einen Truffaut-Ausspruch, der paraphrasiert so geht: „wer (filmisch) genug Kraft in die Ohrfeige legt, braucht keinen Tritt in den Bauch zu zeigen.“ Dem mag man entgegen halten: Tarantino will krass und banal sein. Und er möchte dabei nicht so sehr ernst genommen werden. Von Trier hingegen serviert inhaltliche Schwebe, garniert mit abgeschnittener Klitoris an Kunstkino-Soße. Natürlich kann man sich den Film anschauen. Audiovisuell ist von Trier spannend. Zwischen digitalen schwarz-weiss-ultra-Slowmos (Phantom HD) und Settings im Stile einer Vogue-Modestrecke von extremer Künstlichkeit bietet er aber ein Geschlechterkampf-Märchen an, dass mit drastischer und sexualisierter Gewalt dramaturgische und inhaltliche Schwächen überdeckt. Die lose gestreuten Zeichen („Chaos reigns!“) mit dieser Gewalt zusammen zu halten, gelingt dabei nur leidlich. Wenn postmoderne Filme eine Einladung zum Spielen an den Zuschauer darstellen, sage ich dieses Mal bester Dinge: „Gute Besserung, Mr. T., ich passe!“
***
Vorhang zu.
[...] vollständigen Artikel anzeigen