(D. Schanz)
Das Arsenal-Kino in Berlin zeigte vorgestern Abend Werner Herzogs Langfilmdebüt LEBENSZEICHEN, von 1968. Und abgesehen vom miserablen Zustand der Filmkopie, die einen sehr holprigen Start hatte, sich über die Laufzeit des Films dann noch ganz wacker schlug, um dann das letzte Stück mit Ach und Krach gerade noch so ins Ziel zu stolpern (vom offensichtlich falschen Bildformat das regelmäßig halbe Köpfe und ganze Füße vermissen ließ ganz zu schweigen), war ich vom Film begeistert, so wie mich – das merke ich nun immer häufiger – Herzogs Werk (vor allem die frühen, kleineren Filme) immer mehr zu begeistern vermag. Es scheint also an der Zeit, selbst AGUIRRE – DER ZORN GOTTES, diesem ultra-stoischen Kinski-Ungetüm (das heute um 19 Uhr ebenfalls im Arsenal gezeigt wird), eine zweite Chance zu geben, nachdem ich damals, im unschuldigen Alter von etwa vierzehn Jahren, ignorant gegenüber Herzogs leiser Ironie, das Kino frustriert und am allgemeinen Menschenverstand zweifelnd nach einer guten halben Stunde wieder verlassen hatte. Viel mehr als dieser kleine, zu Recht verwirrte Junge, tun mir heute allerdings jene Zuschauer leid, die stocksteif, nicht eine Mine verziehend, im Kino sitzen und für bare Münze nehmen was immer Herr Herzog (in LEBENSZEICHEN sowie in seinen späteren Dokumentarfilmen noch ganz direkt per Off-Kommentar) ihnen auftischt. Kurzum: diejenigen Zuschauer, die Herzogs absurdkomischen, satirisch-allegorischen Ansätze nicht sehen (wollen?), weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, die menschliche Tragödie zu suchen.
Die Ironie, die Herzog an den Tag legt(e), ist eine andere als jene überhebliche, teils verächtliche Ironie seines Zeitgenossen Alexander Kluge beispielsweise. Herzog respektiert das Individuum, ist umso faszinierter von ihm je ausgegrenzter und eben individualistischer es auftritt, während seine subtile Attacke einem auf unbedingtem Macht- und Fortschrittsdenken ausgerichteten Gesellschaftsbild gilt. Dabei ist er – schon bei LEBENSZEICHEN – schlau genug, seine Hauptfiguren eben nicht als komplett unabhängig von diesem zu zeichnen. Aus distanzierter, fast anthropologisch anmutender Erzählperspektive beobachtet die Kamera einen kleinen Haufen deutscher Soldaten, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der deutschbesetzten griechischen Insel Kos stationiert werden, und legt zunächst einmal ihren bedingungslosen Opportunismus bloß. Becker ist ein klassischer Nerd, dessen archäologisches Interesse an altgriechischen Inschriften auf antikem Gestein jeden Zweifel an Sinn und Zweck, geschweige denn an ethischer Berechtigung der Besetzung im Keim erstickt. Meinhard dagegen ist ein plumper Kerl, dem die Nazi-Ideologie aus jeder Pore hervorzutreten scheint: Er vernichtet Kakerlaken („Ungeziefer“) aus reinem Ekel, ist dem Fremden gegenüber stets misstrauisch und offenbart einen unversiegbaren Geltungsdrang. Die dritte und zentrale Figur im Bunde ist Stroszek – loyal, tüchtig und pflichtbewusst verfügt er auch über die körperliche Erscheinung, um als Abziehbild des nationalsozialistischen Idealbürgers zu fungieren. Mangels ernstzunehmender militärischer Aufgaben allerdings, fallen Becker, Meinhard und Stroszek – allesamt eher Chiffren als komplexe Charaktere, aber dennoch bei weitem nicht seelenlos – auf sich selbst zurück und wissen mit der relativen Freiheit auf der kleinen Insel nicht viel anzufangen. Am allerwenigsten Stroszek: Obgleich frisch verheiratet mit einer jungen Griechin, begegnet er seinem Gefühl der Nutzlosigkeit und Fremde bald mit (auto)destruktivem Verhalten, bevor er dann schließlich ganz „durchdreht“. Gegen Ende also, wenn er wie ein wild gewordenes Tier auf den Mauern der Festung umherspringt und man sich bei Peter Brogles Performance an die animalischen Darstellungen eines jungen Toshiro Mifune oder eben Klaus Kinskis erinnert fühlt, ist mit Stroszek der prototypische Herzog-Held geboren. In der Konfrontation mit einer regressiven Kraft (hier die Ödnis auf der fremden Insel Kos), gerät das Weltbild der eigentlich „funktionierenden“ Figur so stark aus den Fugen, dass ihm als Ausweg nur noch der Wahnsinn und in letzter Konsequenz der Tod bleibt.
In der Art und Weise wie Herzog seine Geschichte erzählt, sagt uns das allerdings mehr über die Gesellschaft, aus der das betroffene Individuum stammt, als über die Figur selbst. Herzog lässt uns nur selten nah an seine Figuren ran, viel häufiger präsentiert er sie dem Zuschauer in weiten Totalen. Am eindrücklichsten sind da zum Ende hin die starren Panoramaeinstellungen auf die Festung (zum Teil aus der Vogelperspektive), auf welcher Stroszek wie wild herumtollt und dabei nicht bedrohlicher, nicht effektiver wirkt als eine Ameise in einem Miniaturlabyrinth. Wie eine Studie über menschliche Verhaltensweisen soll das wirken. Was natürlich noch verstärkt wird durch den nüchtern gesprochenen, allwissenden Off-Erzähler, der nicht nur biografische Fakten der Figuren dem Zuschauer nahe bringt, sondern auch deren Innenleben immer mal wieder skizziert. Selbstironisch wird hier die angeprangerte Rationalisierung menschlicher Verhaltensweisen zur Form erkoren. Allein aus diesem Grund kann sich Herzog auch die viel zu lang dauernde, in ihrer unterkühlten Ernsthaftigkeit völlig absurd wirkende Szene leisten, in der sich eine Gruppe Offiziere und Psychologen über das weitere Vorgehen im Fall des wildgewordenen Stroszek berät. Der Nationalsozialismus wird hier nicht als unkontrolliert böses, dämonisches Ungeheuer dargestellt, sondern – viel schlimmer, weil vermutlich den Lebensumständen des Zuschauers näher verwandt – als rationales, effizientes, und ganz und gar weltliches Monstrum. Und deshalb ist das Ende, also das Verrücktwerden und die finale (im Film nicht gezeigte) Beseitigung der Hauptfigur Stroszek, auch nicht tragisch. Die Tragödie hat sich bereits früher abgespielt – nämlich in der Erziehung des Menschen als funktionierendes und damit sozial determiniertes Subjekt innerhalb einer stets nach unbedingtem Wissen und Fortschritt dürstenden Gesellschaft.
Der Nationalsozialismus eignet sich für diese Allegorie natürlich hervorragend. Und auch der Handlungsort der griechischen Insel Kos, die so vieles an antiker Kultur und Architektur bereithält, ist nicht zufällig gewählt. Herzog zieht hier eine Linie der europäischen Zivilisationsgeschichte von der Antike bis zum „Dritten Reich“ und sogar darüber hinaus. Das Problem Nationalsozialismus, so verstehe ich seinen Film, ist mitnichten ein isoliertes – es hat seine Ursprünge in den Anfängen der „westlichen“ Zivilisation und es trägt seine faulen Früchte mit in die Gegenwart und die Zukunft, da die Grundzüge unverändert geblieben sind.
Ein wichtiges, fast geniales Element, um diesen Punkt herüberzubringen, ist Herzogs einzigartiger Umgang mit den Zeichen des Nationalsozialismus. Er verrät uns das geschichtliche Szenario und wir erkennen die Wehrmachtsuniformen der Hauptfiguren – wir wissen also das Nötigste, damit die Allegorie funktioniert. Ansonsten allerdings verzichtet Herzog vollkommen auf bewährte Nazi- und Authentizitäts-Fetischismen, die vor allem im aktuellen deutschen Historienfilm Hochkonjunktur zu haben scheinen (es ist wohl an Tarantino und seinen INGLORIOUS BASTERDS diesen armseligen Trend endlich zu durchbrechen). Es gibt keine krampfhaft gebrüllten Militärfloskeln à la „Jawohl Herr Kommandant!“ zu hören; nichts zu sehen von stramm angespannter Körperhaltung und rhythmisch-zackigen Bewegungen; kein einziger Hitlergruß wird vollführt und das obligatorische „Heil Hitler!“ bleibt glücklicherweise ebenfalls aus. Der Holocaust ist allein auf der allegorischen Ebene präsent (durch Meinhards notorische Kakerlakenvernichtung beispielsweise), ebenso wie die bigotte Haltung der Deutschen zu ihm (Meinhards Mitleid mit den gefangenen Fliegen, die das Spielzeug eines Zigeuners zum Laufen bringen). An konkreten Handlungen und Eigenschaften gibt es also nicht vieles, was die Hauptfiguren des Films vom Zuschauer unterscheidet, d.h. was sie für den Zuschauer zu bequem weit entfernten Nazi-Others machen könnte. Mit dem Verzicht auf stereotype Nazi(-Film)-Rhetorik erinnert Herzog wieder daran, dass es der Mensch ist, der die Uniform ausfüllt und nicht unbedingt andersherum, und schlägt so eine Brücke zwischen dem Damals und dem Heute. LEBENSZEICHEN erhält dadurch eine universelle Kraft, die den meisten Filmen, die sich in perfidem Nachbildungseifer mit dem deutschen Nationalsozialismus befassen und ihn damit der Vergangenheit übergeben, leider abgeht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen